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lage in Tonkin, 30. März 1885. Die nächsten
Ministerien (Brisson, Freycinet, Goblet) gerieten
immer mehr ins Fahrwasser der revanchelustigen
Radikalen (Spionagegesetz 15. April, Ausweisung
der Prätendenten und Entfernung der Prinzen
aus dem Heer Sommer 1886), denen sich bald der
Kriegsminister Boulanger beigesellte. Trotz der
ungünstigen Finanzlage wurden große Rüstungen
begonnen, während die Patriotenliga unter Dé-
roulödes Führung eine Hetze gegen die Deutschen
ins Werk setzte. Durch den Ordens= und Amter-
schacher seines Schwiegersohnes Wilson kompro-
mittiert, mußte Grévy 2. Dez. 1887 abdanken;
sein Nachfolger als Präsident wurde Sadi Car-
not. Nun begann Boulanger, der im Mai 1887
als Korpskommandant nach der Auvergne ent-
fernt, am 27. März 1888 aus dem Militärdienst
entlassen wurde und in seiner maßlosen Eitelkeit
eine Diktatur erstrebte, die Massen aufzuwiegeln.
Sein intrigantes Spiel, welches die Zerfahrenheit
der Parteien und die Schwäche der Regierung ihm
erleichterten, hielt ein ganzes Jahr hindurch Frank-
reich und mit ihm Europa in Aufregung, bis das
energische Auftreten der Minister Floquet und
Constans dem Treiben ein Ende bereitete. Nach
Auflösung der Patriotenliga wurde Boulanger
wegen Attentats gegen den Staat und Unter-
schlagung öffentlicher Gelder angeklagt, entzog sich
aber der Haft durch schleunige Flucht nach Brüssel
(8. April 1889).
Die glänzende Weltausstellung 1889 stärkte
die Autorität der Regierung und die Ruhe im
Innern. Dies förderte die guten Beziehungen zu
Rußland, die in den gegenseitigen Flottenbesuchen
zu Kronstadt (Juli 1891) und Toulon (Okt.
1893) und einem Meistbegünstigungsvertrag sich
äußerten, vorerst aber noch zu keinem förmlichen
Bündnis führten. Ein weiterer großer Erfolg der
Republik war es, daß Leo XIII. Anfang 1892
die Katholiken zum aufrichtigen Anschluß an die
bestehende Staatsform aufforderte, den Kardinal
Lavigerie eingeleitet hatte und die Partei des
Grafen de Mun weiterbetrieb. Der Tod des
Prinzen Louis Napoleon (1879) und des Grafen
Chambord (1883) hatte den Monarchisten ohne-
hin zum Teil den Boden entzogen. Gefährlicher
waren für die Regierung der in wiederholten
Streiks, anarchistischen Attentaten und antikleri-
kalen Demonstrationen zutage tretende Radika-
lismus und die Korruption der leitenden Kreise,
die durch den Panamaskandal grell beleuchtet
wurde. Schon der Bankrott der Panamagesell-
schaft (1889), der den Aktieninhabern, gutenteils
aus dem Mittelstand, 1 ½⅛ Milliarden Francs ko-
stete, war der boulangistischen Bewegung zugute ge-
kommen. Mit der Zeitstellte sich heraus, daß Presse,
Minister, Abgeordnete und Justizbehörden Be-
stechungsgelder genommen und die Entwicklung
des schwindelhaften Unternehmens ermöglicht hat-
ten. Kammerskandale und Ministerwechsel folgten
aufeinander, bis die Verurteilung der beiden
Frankreich.
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Lesseps, des Ministers Barhaut u. a. (1898) eine
gewisse Ruhe brachte. Viele schwer kompromit-
tierte Mitschuldige, darunter Freycinet und Clé-
menceau, kamen freilich straflos davon. Ein
„Konzentrationsministerium“ Dupuy, das die
gemäßigten Elemente sammelte, und besonders
energisch dessen Nachfolger Casimir-Périer, hielten
die Ordnung aufrecht. Als Carnot am 24. Juni
1894 einem anarchistischen Attentat zum Opfer
fiel, wurde daher Casimir-Périer als „sRetter der
Gesellschaft“ zum Präsidenten gewählt. Er dankte
jedoch, der Angriffe der Radikalen und der In-
trigen der Seinen müde, beim Sturz des Mini-
steriums Dupuy schon am 14. Jan. 1895 wider
Erwarten ab. — Große Fortschritte machte in
den letzten Jahren die Kolonialpolitik. 1892
wurde Dahomey, 1894 Timbuktu besetzt. 1893
mußte Siam das linke Mekongufer abtreten und
1895 Madagaskar das französische Protektorat
anerkennen.
Casimir-Périers Nachfolger wurde F. Faure.
Am 1. Nov. 1895 trat erstmals ein radikales
Kabinett (Bourgeois) ins Leben. Die projektierte
Einkommensteuer verstieß jedoch zu sehr gegen das
Interesse der Bourgeoisie und scheiterte daher im
Senat. Das opportunistische Ministerium Meline,
das jetzt folgte (April 1896 bis Juni 1898), ver-
trat mit seinen schutzzöllnerischen und kirchenfreund-
lichen Tendenzen mehr den Mittelstand. Eine her-
vorragende Stellung im Kabinett nahm wie schon
unter Bourgeois' Vorgängern der Minister des
Auswärtigen, Hanotaux, ein, der ohne Rücksicht
auf die öffentliche Meinung ein besseres Verhält-
nis zu Deutschland erstrebte (mehrere Kolonial-=
abkommen). 1895 ging Frankreich mit Deutsch-
land und Rußland zusammen, um Japan zum
Frieden von Schimonoseki zu zwingen. 1896
machte Zar Nikolaus II. seinen Antrittsbesuch in
Paris, und beim Gegenbesuch Faures in St Peters-
burg Aug. 1897 verkündeten die Trinksprüche auf
die „befreundeten und alliierten Nationen“, daß
der Zweibund Tatsache geworden war. Dagegen
wurde das Verhältnis zu England auf einige
Jahre getrübt, als dieses dem Vordringen Frank-
reichs im östlichen Sudan Schranken wies und den
Oberst Marchand zwang, das bereits besetzte Fa-
schoda am Weißen Nil zu räumen (1898).
Inzwischen zog ein neuer Skandal herauf, der
alle politischen Leidenschaften wieder aufwühlte.
1894 war der jüdische Hauptmann Dreyfus wegen
Verrats militärischer Geheimnisse zur Deportation
verurteilt worden. Manche bezeichneten den Haupt-
belastungszeugen Major Esterhazy als den wahren
Schuldigen, und 1897 begannen die Freunde des
Verurteilten, namentlich Senator Scheurer-Kestner
und Oberst Picquart, die Agitation für die Re-
vision des Prozesses. Die Linke bis zu den So-
zialisten, die in Dreyfus ein Opfer der Klerikalen
und Monarchisten im Heer sahen, waren dafür,
die Rechte, mit besonderer Leidenschaft die aus
Monarchisten, Antisemiten, Patrioten und Ex-