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boulangisten verschiedenster Sorte zusammengesetzte
nationalistische Gruppe, war dagegen. Auch die
Regierung und natürlich die Militärpartei sträubte
sich gegen die Revision; sie war jedoch nicht mehr
zu umgehen, als dem Obersten Henry die Fäl-
schung eines der belastenden Schriftstücke nach-
gewiesen war, und wurde Okt. 1898 vom Kas-
sationshof beschlossen. Infolgedessen erhitzten sich
die Leidenschaften noch mehr; ein Putsch der Na-
tionalisten unter Déroulede bei Faures Begräbnis
(Febr. 1899; Nachfolger Loubet) war jedoch
mehr lächerlich als gefährlich. Die Linke schloß sich
jetzt „zur Aufrechterhaltung der Republik“ mehr
zusammen, und im radikalen Kabinett Waldeck-
Rousseau (Juni 1899) fanden erstmals auch zwei
Sogzialisten Platz. 9. Sept. 1899 wurde Dreyfus
abermals verurteilt, aber alsbald begnadigt und
durch eine Amnestie alle damit zusammenhängen-
den Prozesse niedergeschlagen. Dieser Ausgang
sowie die Weltausstellung 1900 trugen zur Be-
ruhigung bei. .
6. Die neueste Zeit. Unter den weiteren
inneren Vorgängen in Frankreich sind diejenigen
Ereignisse von grundsätzlich größter Bedeutung,
welche das Verhältnis zwischen Staat und Kirche
sowie die Rechtsstellung der Katholiken im Lande
betreffen. Mit 1901 beginnt eine Periode, welche
im Sinne des radikalen atheistischen oder direkt
religionsfeindlichen Republikanismus über die
Stellung der Kirche gewalttätig entscheidet und
ihr möglichst jeden öffentlich rechtlichen Charakter
nimmt. Mit 1908 ist das Werk ihrer Vergewal-
tigung im wesentlichen abgeschlossen. Das Jahr
1901 brachte das Vereinsgesetz mit dem Stempel
Waldeck-Rousseaus, das, wie besonders auch aus
den Ausführungsbestimmungen zu demselben her-
vorgeht, den Kongregationen großenteils den Gar-
aus machen sollte; dafür wurde eine Milliarde kon-
fiszierten Klostergutes für soziale Zwecke in Aus-
sicht gestellt. Als fünf Jahre nach den ersten Auf-
lösungen von Kongregationen verflossen waren,
verlangte man im Parlament einen Rechenschafts-
bericht über das Ergebnis der Liquidationen der
Klostergüter; dieser erschien anderthalb Jahre
nach der Aufforderung und bestätigte, daß die
Liquidationskosten schon auf viele Millionen, die
Liquidationverträge aber bis dahin auf noch keine
200 000 Francs sich beliefen. Ende 1901 er-
öffnete der Budgetausschuß der Kammer durch
seinen Antrag auf Streichung des Kultusbudgets
— eine alte radikale Forderung — die Aussicht
auf die spätere Trennung. Vorderhand aber er-
klärte Waldeck-Rousseau, der noch gar nicht ahnte,
welchen Stein er selbst bereits ins Rollen gebracht
hatte, beim Konkordat stelle sich der Staat besser
als bei der Trennung, was insofern allerdings
richtig war, als der Staat auf die kirchlichen Er-
nennungen dank dem Konkordat starken Einfluß
hatte, ein von vielen Katholiken beklagter Zustand.
Als die Neuwahlen im April 1902 eine starke
radikale Mehrheit ergeben hatten, folgte dem Ka-
Frankreich.
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binett Waldeck-Rousseau alsbald das Kabinett
Combes, das sofort eine schärfere Tonart gegen die
Kirche und den Katholizismus anschlug. Combes
hatte es auf die Beseitigung aller von Kongre-
gationen geleiteten Schulen abgesehen, und die
Kammer leistete ihm darin Gefolgschaft. Ließ das
Vereinsgesetz Waldeck-Rousseaus den Fortbestand
der Kongregationen zu, insoweit sie um die Ge-
nehmigung einkamen, so wurde die letztere jetzt
grundsätzlich verweigert und großer Eifer in der
vielfach gewaltsamen Auflösung der Niederlas-
sungen und Schließung der Schulen entwickelt,
was Widerstand hervorrief nicht nur bei den Ka-
tholiken, sondern auch bei dem zu den Maßnahmen
verwendeten Militär. Schon 1903 wurden die
Kosten, welche den öffentlichen Behörden aus der
Unterdrückung der Kongregationsschulen erwuchsen,
auf 60 bis 70 Millionen Francs, davon 10 Mil-
lionen jährlich laufende, geschätzt. In den Kolo-
nien wurden die Schulen auch verweltlicht, da-
gegen doch die Beibehaltung derjenigen Kongre-
gationen beschlossen, die Lehrkräfte für das Ausland
und die Kolonien ausbildeten. Der Antikleri-
kalismus bildete also noch immer keinen Ausfuhr=
artikel, wie denn auch die diplomatischen Ver-
treter Frankreichs im nahen und fernen Osten sich
aus politischen Gründen nach wie vor als die Be-
schützer des Katholizismus gerierten, besonders der
Botschafter in Stambul. Anfang 190 hielt auch
Combes noch am Konkordat fest und erklärte, die
religiöse Idee sei heute noch notwendig, die Tren-
nung von Kirche und Staat würde ernste Schwie-
rigkeiten im Gefolge haben; er lehnte also den
Antrag auf Trennung ab. Bald darauf brach ein
Konflikt mit der Kurie aus, welche die Nennung
von Bischofskandidaten durch die französische Re-
gierung als eine bloße Namhaftmachung (Nobis
nominavit), nicht als eine Ernennung (nomina-
vit), wie es Combes verlangte, ansah. Nach Mo-
naten verzichtete die Kurie zwar auf das Nobis —
inzwischen war Pius X. auf Leo XIII. gefolgt —,
Combes kirchenfeindliche Stimmung aberhattesich
verschärft; allen predigenden Kongregationen war
das Predigen nahezu unmöglich gemacht worden.
„Die Pfarrgeistlichkeit kann auf Grund des Konkor-
dats allen Bedürfnissen genügen.“ Im November
erschien die Vorlage, welche Mitgliedern von Kon-
gregationen den Unterricht überhaupt untersagte
und später — gegen Waldeck-Rousseaus Einspruch
— angenommen wurde. In demselben Monat
schlug ein besonderer Kammerausschuß ein kurzes
Gesetz vor, das Staat und Kirche voneinander
trennen sollte. Die drei französischen Kardinäle er-
ließen einen scharfen Einspruch gegen die neuesten
kongregationsfeindlichen Maßnahmen, die der Aus-
rottung des Katholizismus dienen sollten, der Papst
folgte ihnen mit einem Einspruch gegen die gesamte
französische Kirchenpolitik (März 1904), wogegen
die französische Regierung ihrerseits Einspruch er-
hob, weil ihre Handlungen mit dem Konkordat
sich in Einklang befänden. Nun sah man das ent-