Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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so manchen Punkten eine volle Übereinstimmung 
mit den entsprechenden Vorgängen der französi- 
schen Enqueten zu danken, und es ist besonders der 
Fragebogen der Gegenstand mancher Angriffe ge- 
worden. Wie uns indes scheinen will, sind diese 
Angriffe nicht gerechtfertigt, soweit sie sich nicht 
gegen übertriebene Pedanterie bei der Verneh- 
mung, wie sie nach dem soeben Gesagten in 
Frankreich vermieden wird, sondern gegen die 
Aufstellung eines solchen Bogens überhaupt rich- 
ten. Es ist, mag nun die Enquete eine von einer 
ad hoc ernannten Kommission abzuhaltende oder 
eine von den gewöhnlichen behördlichen Organen 
vorzunehmende sein, zu empfehlen, daß entweder 
jene Kommission selbst oder die höchste staatliche 
Stelle einen von kompetentester Hand aufgestellten, 
die Sache allseitig beleuchtenden Fragebogen ver- 
teilt, zum mindesten für den Fall, wo die ge- 
wöhnlichen staatlichen Organe oder Subkommis- 
sionen oder Delegierte der Enquetekommission die 
Vernehmungen vornehmen. Doch muß den Fra- 
genden das Recht gewahrt werden, noch weitere 
Fragen zu tun und nur solchen Personen die be- 
treffenden Fragen vorzulegen, von denen Auf- 
klärungen über dieselben erwartet werden können. 
Es gibt so vielfache und so einseitige Auffassungen 
der verschiedenen Verhältnisse, daß nicht genug 
Faktoren zur Beleuchtung aller Seiten derselben 
mitwirken können. 
Übrigens haben auch in Deutschland bereits 
sehr bedeutende Enqueten stattgefunden, von denen 
einige Erwähnung finden mögen. Um die Mitte 
der 1870er Jahre fanden die umfassenden Er- 
hebungen über „die Verhältnisse der Lehrlinge, 
Gesellen und Fabrikarbeiter“ statt, welche zur Ab- 
hörung von mindestens 10 000 Personen an 559 
Orten, freilich nicht wie bei der geschilderten 
großen französischen Agrar-Enquete durch Sach- 
verständigenkommissionen, sondern durch die staat- 
lichen Beamten der betreffenden Distrikte, geführt 
haben. Über die Einwirkung der Gefangenen- 
hausarbeit auf die Löhne der betreffenden Ge- 
werbszweige ward im Jahr 1877 eine Enquete 
an den Orten, wo sich dieser Einfluß am meisten 
fühlbar machte, abgehalten. Ihr folgten 1878 
Enqueten über die Tabakindustrie, die Eisen- 
industrie sowie über die Baumwoll= und Leinen- 
industrie, 1885 eine Enquete über die Sonntags- 
arbeit und im Anschluß an den großen Berg- 
arbeiterausstand des Jahres 1889 Erhebungen 
über die Arbeiter= und Betriebsverhältnisse in 
fünf preußischen Bergwerksrevieren, die mit der 
Publikation eines eingehenden Berichts über alle 
in Betracht kommenden Fragen unter Beischluß 
der Verhandlungsprotokolle, einer Lohnstatistik 
und der Arbeitsordnungen abschlossen, welche im 
Jan. 1890 erfolgte. 1892 wurde eine „Reichskom- 
mission für Arbeiterstatistik“, 1902 an deren Stelle 
ein „Beirat für Arbeiterstatistik“ eingesetzt (vgl. 
d. Art. Statistik). Die bisherigen arbeitsstatisti- 
schen Erhebungen erstrecken sich auf die Arbeitszeit 
Entail — Enteignung. 
  
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in Bäckereien und Konditoreien (1892/93), die 
Arbeitszeit, Kündigungsfrist und Lehrlingsverhält- 
nisse im Handelsgewerbe (1893/94), Arbeits= und 
Gehaltsverhältnisse der Kellner und Kellnerinnen 
(1894), Arbeitszeit in den Getreidemühlen (1894 
bis 1895), die Verhältnisse im Handwerk (1895 
bis 1896) und die Arbeitsverhältnisse in der 
Kleider- und Wäschefabrikation (1896) usw. Sehr 
bedeutende wirtschaftliche Enqueten waren die 
Börsenenquete (1892/93, 93 Sitzungen) sowie die 
Kartellenquete (1908/06). Bei der letzteren bilde- 
ten „kontradiktorische Verhandlungen" die Grund- 
lage. Es wurden keine Zeugen vernommen, son- 
dern in größeren Versammlungen von Inter- 
essenten und Sachverständigen kamen in Rede und 
Gegenrede die verschiedenen Ansichten zum Aus- 
druck. Im Jahre 1908 trat auf ähnlicher Grund- 
lage eine Bankenquetekommission (23 Mitglieder, 
180 Sachverständige) zusammen, welche vor allem 
die Frage einer Umgestaltung der rechtlichen Grund- 
lagen der Reichsbank zu prüfen hat. 
Was Österreich anlangt, so ist auch hier das 
Enquetewesen neuerdings zu hoher Bedeutung ge- 
langt, und es braucht diesbezüglich nur auf die 
parlamentarische Enquete über die Arbeiterverhält- 
nisse, die im Jahr 1888 zur Vorbereitung der zu 
erlassenden Arbeiterordnung stattfand, verwiesen 
zu werden. 
Im allgemeinen kann behauptet werden, daß 
gegenwärtig kein zivilisierter Staat dieses hoch- 
wichtigen Mittels der Information über die 
öffentlichen Zustände zu entraten vermag, als 
dessen Grundzüge, von deren Realisierung der 
Erfolg der Enquete abhängt, die möglichst große 
Offentlichkeit des Verfahrens, die möglichste Ver- 
wirklichung des mündlichen Verhörs, die Vor- 
nahme desselben inmitten des Tätigkeitsschau- 
platzes der zu vernehmenden Personen und die 
Beiziehung auch möglichst vieler unparteiischer 
sozialer Autoriläten sich ergeben. 
Literatur. Außer den verschiedenen Publi- 
kationen über die Resultate der E.n, wie sie überall 
ausführlich erscheinen: Das Verfahren bei E.n über 
soziale Verhältnisse, drei Gutachten von Embden, 
Cohn, Stieda, nebst einem aus dem Englischen 
übersetzten Anhang: über die Untersuchung von 
Gewerbestreitigkeiten u. die dem Zeugnis der Ar- 
beitgeber und Arbeiter zukommende Glaubwürdig- 
keit (Bd 13 der Schr. des Vereins für Sozialpolitik, 
1877); G. Cohn, Parlamentar. Untersuchungen in 
England (Jahrb. für Nationalökon. u. Statistik 
Bd 25, 1875); Schnapper-Arndt, Zur Methodo- 
logie sozialer E.n (1888); Art. „E.n“ im Hand- 
wörterbuch der Staatswissenschaften u. im Wörter- 
buch der Volkswirtschaft. (Kämpfe, rev. Red.]) 
Entail s. Fideikommiß. 
Enteignung. 1. Begriff. Enteignung ist 
jede auf Grund eines Verwaltungsaktes erfolgende 
ersatzpflichtige Entziehung, Benutzung oder Be- 
schädigung einer Sache, Beschränkung des Eigen- 
tums, Entziehung oder Beschränkung von Rechten. 
Die Enteignungsmacht des Staates ist deswegen
	        
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