Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

249 
öfter als zweimal während derselben Sitzungs- 
periode. Jeder Abgeordnete und jeder Senator 
hat das Recht der Initiative; zu einem Gesetz ge- 
hört die Zustimmung beider Kammern, indes muß 
jedes Finanzgesetz zuerst der Abgeordnetenkammer 
vorgelegt und von derselben angenommen werden. 
Die Kammemn besitzen ferner das Recht, in ge- 
trennten Versammlungen zu erklären, daß sie eine 
Revision der Verfassung für statthaft halten. Nach- 
dem sie einzeln diesen Beschluß gefaßt haben, treten 
sie zu einer Nationalversammlung zusammen, um 
die Revision vorzunehmen; die darauf bezüglichen 
Beschlüsse müssen von der absoluten Majorität 
sämtlicher Mitglieder der Nationalversammlung 
gefaßt werden. 
Der Präsident der Republik wird von der 
Nationalversammlung mit absoluter Stimmen-= 
mehrheit auf sieben Jahre ernannt und kann wieder- 
gewählt werden. Ihm steht, wie der Kammer, die 
Gesetzesinitiative zu, er hat aber weder ein Be- 
stätigungsrecht noch ein Veto; er verkündet die 
Gesetze, überwacht und sichert ihre Ausführung 
und bat das Recht der Begnadigung; doch können 
Amnestien nur durch ein Gesetz erlassen werden. 
Er präsidiert den feierlichen Staatsakten, beglau- 
bigt und empfängt die diplomatischen Vertreter, 
verfügt über die bewaffnete Macht, ernennt die 
Minister wie alle Zivil- und Militärbeamten, 
unterhandelt mit den auswärtigen Mächten, schließt 
und ratifiziert die Verträge, kann aber Krieg nur 
nach eingeholter Zustimmung beider Kammern er- 
klären. Die Friedens= und Handelsverträge, die 
Verträge, welche die Staatsfinanzen berühren, 
sowie jene, welche sich auf den Stand der Per- 
sonen und das Eigentumsrecht der Franzosen im 
Auslande beziehen, sind erst dann rechtskräftig, 
wenn beide Kammern sie angenommen haben. Für 
jede Abtretung, jeden Tausch und jeden Erwerb 
von Landesgebiet ist ein Gesetz erforderlich. Jeder 
Akt des Präsidenten muß von einem Minister 
gegengezeichnet sein. Die Minister sind vor den 
Kammern für die allgemeine Politik der Regie- 
rung samtverbindlich und für ihre persönlichen 
Akte individuell verantwortlich, der Präsident der 
Republik dagegen ist für alle in seiner Eigenschaft 
als Staatsoberhaupt vollzogenen Akte unverant- 
wortlich, mit Ausnahme des Hochverrats, in 
welchem Falle der Abgeordnetenkammer das An- 
klagerecht und dem Senat die Urteilssprechung 
zusteht. Bei einer Vakanz sollen, da kein Vize- 
präsident vorgesehen ist, die vereinigten Kammern 
sofort zur Erneuerung eines Nachfolgers schreiten; 
in der Zwischenzeit ist der Ministerrat mit der 
ausübenden Gewalt betraut. 
Zur Vertretung und Wahrnehmung der Inter- 
essen der Departements und Arrondissements be- 
stehen in jenen General-, in diesen Arron- 
dissements-Räte, deren Mitglieder auf sechs 
Jahre durch allgemeine direkte und geheime Wahl 
(ie 1 Mitglied für einen Kanton) gewählt werden 
(alle 3 Jahre zur Hälfte erneuert); die Mit- 
Frankreich. 
  
250 
glieder der Präfekturen und andere öffentliche 
Beamte, die Militärkommandanten und Geist- 
lichen sind nicht wählbar. Beide Körperschaften 
halten in jedem Jahre zwei ordentliche öffentliche 
Sitzungen unter selbstgewählten Präsidenten; sie 
haben sich nur mit den Angelegenheiten ihrer Be- 
zirke zu beschäftigen, doch sind in Zeiten politi- 
scher Erregung Erörterungen allgemeiner politi- 
scher Angelegenheiten recht gewöhnlich. Die Ge- 
neralräte (Cconseils généraux) wurden durch das 
Gesetz vom 10. Aug. 1871 neu organisiert. Jeder 
Kanton des Departements emltsendet ein Mitglied 
in den Generalrat; nur im Seine-Departement 
gehören demselben auch sämtliche Mitglieder des 
Munizipalrats von Paris an. Jeder Generalrat 
beruft jährlich aus seiner Mitte eine ständige 
Departementalkommission, welche dem Präfekten 
an die Seite gesetzt ist. — Die Organisation der 
Arrondissementsräte (conseils d’arron-- 
dissement), deren jährliche Sitzungen die Dauer 
von 15 Tagen nicht überschreiten dürfen, beruht 
auf den Gesetzen vom 22. Juni 1833 und 10. Mai 
1838; die Zahl ihrer Mitglieder ist mindestens 
neun, gewöhnlich wählt jeder Kanton ein Mit- 
glied. — Die Gemeindeverfassung beruht auf den 
Gesetzen vom 18. März 1837, 24. Juli 1867, 
4. April 1873. 20. Jan. 1874, 12. Aug. 1876, 
28. März 1882, und ist durch Gesetz vom 5. April 
1884 neu geordnet. Jede Gemeinde hat einen 
Munizipalrat (conseil municipal) und einen 
Maire. Ersterer wird, je nach der Größe der 
Gemeinde, aus 10—36 (in Paris aus 80) auf 
drei Jahre gewählten Mitgliedern gebildet und 
auf Grund des allgemeinen Stimmrechts von jenen 
Franzosen erwählt, welche mindestens 21 Jahre 
alt sind und entweder in der Gemeinde ständig 
wohnen oder in derselben direkte Steuer zahlen. 
Die 25 Jahre alten Wahlberechtigten sind auch 
wählbar. Die Sitzungen des Gemeinderats sind 
nicht öffentlich. 
Die Verwaltung ist von der Gesetzgebung 
und Justiz geschieden und straff zentralisiert. Be- 
sorgt wird sie in oberster Instanz von zwölf Mini- 
sterien, an deren Spitze Ministerstaatssekretäre 
stehen, die vereint unter dem Vorsitz des Staats- 
oberhauptes den Ministerrat bilden: 1) Mini- 
sterium der Justiz, dessen Chef den Titel Siegel- 
bewahrer (garde des sceaux) führt, und der 
Kulte; 2) Ministerium des Außern, auch für die 
dem französischen Protektorat unterstellten Länder; 
3) Ministerium des Innern, dem auch die Armen- 
und Gesundheitspflege sowie die Strafanstalten 
unterstellt sind; 4) Ministerium der Finanzen; 
5) Ministerium des Krieges; 6) Ministerium der 
Marine; 7) Ministerium des öffentlichen Unter- 
richts und der schönen Künste; 8) Ministerium 
für Handel und Industrie, von dem auch das 
technische Unterrichtswesen ressortiert; 9) Mini- 
sterium der öffentlichen Arbeiten (für Straßen, 
Binnenschiffahrt, Wasserbauten, Bergwerke), Po- 
sten und Telegraphen, Eisenbahnen; 10) Mini-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.