285
b) Engverbunden wie der Geist mit dem Körper
sind mit diesen wirtschaftlichen Ursachen solche
ideeller Natur. Der Individualismus, in seiner
historischen Entwicklung bekannt, hat auch auf die
Frauenwelt gewirkt, freilich nicht durch die Virago
der Renaissance, die ebensowenig eine Pfadfinderin
für ihr Geschlecht geworden ist wie 400 Jahre
später die Asthetin der Romantik (Bettina; Rahel
und ihr Berliner Kreis). In Deutschland hat
der Individualismus, der das Ich auf sich und
Gott und der Welt gegenüberstellt, erst als Folge-
erscheinung der Reformation breite Frauenschich-
ten erfassen können. Die Reformation wollte das
Weib „seinem Naturzweck zurückgeben“, und wenn
Luther auch nie die Ewigkeitsbestimmung des
Weibes geleugnet hat, so sah er es für die Dauer
des irdischen Lebens doch als dem Manne gehörig
an. In schroffem Gegensatz zu dieser Auffassung, die
Daseinszweck, Glück und Beruf der einen Mensch-
heitshälfte in die Hand der andern legt, betont
der Individualismus, getreu seinem Namen, Wert
und Bedeutung des Ich an sich, den Persönlich-
keitswert. Kam der Tag, wo diese Anschauung
der Frau ins Bewußtsein trat, so mußte sie, wieder-
um in erklärlicher Reaktion, gegen die Uberwertung
des Geschlechtszweckes etwa sagen: „Ich bin ein
Ich für mich, eine Persönlichkeit, frei, den Ge-
schlechtszweck zu wählen, aber vollwertiger Mensch
auch ohne Mann. Und als Mensch habe ich un-
veräußerliche Rechte, auch ein Recht auf ein Leben
außerhalb des Geschlechtszwecks, so gut wie der
Mann. Auf Grund dieses Rechts will ich andere
bessere Lebensmöglichkeiten, weitere Bewegungs-
grenzen haben!“ Neue geistige Strömungen halfen
dieses Bewußtsein in ihr wecken. Naturrechtliche
Ideen stellten auch ihren Geist auf den Begriff des
Rechts und der Freiheit ein. Das „Humanitäts“-
Ideal der „Aufklärung“, bis in die zweite Hälfte
des 19. Jahrh. noch weit stärker als heute nach-
wirkend, erzeugte in weiblichen Köpfen die ebenso
unbeabsichtigte wie unvorhergesehene Wirkung,
daß das Unterschiedliche der Geschlechter in den
Hintergrund, das Gemeinsam-Menschliche in den
Vordergrund trat, und die Vorstellung von der
Gleichheit der Geschlechter die führenden Frauen
beherrschte. Dazu kam, daß der Kern der natur-
rechtlichen Ideen, der Begriff der politischen Frei-
heit, auf wirtschaftlichem Gebiete das manchester-
liche Ideal vom „Spiel der freien Kräfte“ erzeugt
hatte, das in schrankenloser Konkurrenz das Heil
sah. Unter dem Einfluß dieser Zeitideen empfand
die Frau ihren Ausschluß auf wirtschaftlichem
Gebiete von den einträglicheren Erwerbsberufen,
auf geistigem von den gelehrten Berufen und
höheren Bildungsanstalten durch den ihr doch
„gleichen“ männlichen Menschen als einen Aus-
fluß männlicher Willkür, nicht männlicher Ver-
nunft. Die Empfindung, im Bau ihrer Lebens-
grundlagen lediglich von männlicher Willkür ab-
zuhängen, wurde noch verstärkt durch die Inkonse-
quenz, dieses Charakteristikum der Willkür, die darin
Frauenfrage ufw.
286
zutage trat, daß man das Weib zu den schwersten,
aber schlechtbezahlten Arbeiten (Bergwerk) zuließ,
ihm aber leichtere und einträglichere Posten unter
Hinweis auf seine Schwäche vorenthielt; daß man
die Ehefrau unter das Mundium des Gatten
stellte, nach seinem Tod ihr aber volle Verant-
wortlichkeit für die Familie auferlegte; daß man,
wenn auch nicht ohne Widerspruch, das Weib
für geistig minderwertig erklärte, ihm aber die
Bildung der weiblichen Jugend anvertraute und
zur geregelten Vorbereitung auf den Lehrberuf das
Lehrerinnenseminar schuf. So dürftig hier das
Ziel, so mechanisch die Methode war, sie hat be-
vorzugten Geistern doch als Stufe gedient, hat
Charaktere bilden helfen und ein zielsicheres Wollen
gestützt. Von Lehrerinnen (Auguste Schmidt, He-
lene Lange) wurde nach dem Tod von Luise Otto
die Lage der Frauen zuerst öffentlich einer Kritik
unterzogen, und von ihnen wurde die erste positive
Forderung gestellt, von Lehrerinnen ging der An-
stoß zur Frauenbewegung aus. Und wenn diese
Ersten auch ihrer Zeit weit vorausgeeilt waren, so
zeigt doch der Widerhall, den ihre Worte schließ-
lich weckten, daß sie die Not der Zeit recht erkannt
und signalisiert hatten. Es gelang ihnen, langsam
eine Gefolgschaft zu organisieren. Aus Ruferinnen
zum Kampf wurden sie Führerinnen der Frauen-
bewegung.
Wenn führende Frauen der Bourgeeisie in gei-
stiger Selbständigkeit die Zeitideen kritisch auf ihre
Lage anwandten, so wurde den Frauen der hand-
arbeitenden Klassen, den Industriearbeiterinnen,
in dem letzten Drittel des 19. Jahrh. eine neue
geistige Strömung vermittelt durch die Agitation
der sozialistischen Demokratie. Die Sozialdemo=
kratie lehrte sie, sich den Männern gleich zu fühlen,
nicht sowohl als Arbeiterin, geschweige denn als
Frau, sondern als entrechtete Proletarierin, und
als solche ihre „angebornen Menschenrechte“ von
den besitzenden Ausbeutern zurückzuverlangen und
sich zu diesem Zwecke mit den Männern zusammen-
zuschließen. Diese proletarische Frauenbewegung
war und ist Klassenkampf. Die sozialistische Ar-
beiterin fühlt sich nicht solidarisch mit den Frauen
anderer Klassen, sondern mit den „Proletariern
aller Länder“. Der gleiche Haß gegen die sozial
begünstigten Klassen, „die eine reaktionäre Masse",
bindet sie unter sich und mit den Genossen zu-
sammen, daneben aber auch der begeisterte Glaube
an den Zukunftsstaat. Wie das Humanitätsideal
der Aufklärung das Trennende der Geschlechter
über der „schönen Menschlichkeit“ vergessen hatte,
so gehen hier die Geschlechtsinteressen im gleichen
Hasse unter. Klara Zetkin hat zwar eine geson-
derte Erörterung der Fraueninteressen in eigenen
Versammlungen eingeführt, praktisch wird aber
auch unter dem neuen Vereinsgesetze an der inter-
sexuellen Organisation zu Parteizwecken, zum
Klassenkampfe festgehalten und dem Strome der
für alle Klassen gleich bedeutsamen Frauen-
bewegung ein breiter Zufluß abgegraben. Mit-