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Die Unsicherheit des Frauenschicksals tritt deut-
lich vor Augen, wenn wir in folgenden Zahlen
den Prozentsatz der Verheirateten und Ehelosen
unserer weiblichen Bevölkerung, d. h. der Ledigen,
Verwitweten, Geschiedenen, Eheverlassenen, in drei
Altersklassen betrachten.
Alter 16—30 Jahre 30—50 50 aufwärts
Verheiratet 2924% 2761 % 49643/
Ehelos! 70, 76% (22,39% „50,36%
1 Ledige, Verwitwete, Geschiedene.
Der Prozentsatz der Verheirateten steigt von
29 auf 77 und fällt wieder auf 49 — eine konvexe
Linie. Über das Gegenstück dazu, eine konkave
Linie, unterrichtet die folgende Darstellung des
Prozentsatzes der weiblichen Erwerbstätigen in den
gleichen Altersklassen.
Alter 16—80 Jahre 30—50 50 aufwärts
Erwerbstätige 56,10% 24,61% 25, 20% 1
1 Von Altersklasse 70 aufwärts 15,55 0.
Die Kurven zeigen, daß die Ehe das weibliche
Geschlecht in der Regel nur in den Jahren von
30 bis 50 überwiegend in Anspruch nimmt. Vor
30 und nach 50 Jahren ist die Hälfte ehelos und
hat selber für Lebensinhalt oder Lebensunterhalt
oder für beides zu sorgen. Das Frauenleben ist
dualistisch gespalten, und zwar in allen Klassen.
III. Ziele und Wege. Nach Einsicht in die
Ursachen der entstandenen Schwierigkeiten fragen
wir, durch welche Schritte die Frauen sie zu be-
seitigen hoffen und welche Ziele sie aufstellen. Die
Führerinnen der bürgerlichen Bewegung forderten
als ersten Schritt bessere Bildungsgelegen-
heiten. Wissenschaft und Kunst sollten sich dem
weiblichen Geiste nicht verschließen. Die Er-
schließung der Hochschule galt als nächstes Ziel.
Diese Bildungsforderung führte rückwirkend zur
Gründung von Realgymnasial= und Gymnasial-
kursen, Mädchengymnasien und zu dem Plane
einer allgemeinen Mädchenschulreform. Das
Bildungsprogramm der organisierten Frauen-
bewegung umfaßt ebenfalls ortsstatutarischen und
landesgesetzlichen Fortbildungsschulzwang für die
Töchter des Mittel= und Arbeiterstandes sowie
hauswirtschaftlichen Unterricht in der Volksschule.
Ebenfalls bieten die wirtschaftlichen Frauenschulen
auf dem Lande sowie die Wanderkochkurse gün-
stige Gelegenheit zu gründlicher hauswirtschaft-
licher und hausmütterlicher Vorbildung.
Mit diesen Bildungszielen erscheint aufs engste
verknüpft das Streben, Gelerntes betätigen zu
können: die Forderung erweiterter Berufs-
und Erwerbsmöglichkeit. In dem bereits
erschlossenen Beruf der Lehrtätigkeit erstrebte man
erfolgreich, mittels akademischer Vorbildung in
Oberlehrerstellen aufzurücken, an der Direktion
Anteil zu gewinnen und dadurch erhöhten Einfluß
Staatslexikon. II. 3. Aufl.
Frauenfrage usw.
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auf die Mädchenbildung zu erhalten. Als neu zu
erschließender Beruf wurde zunächst der ärztliche,
dann der Apothekerberuf und der der Bibliothekarin
genannt, unter gleichzeitiger Betonung der Not-
wendigkeit juristisch geschulter Beraterinnen. In
Bayern sind neuerdings auf Verfügung des Justiz-
ministers zunächst fünfzig Frauen an den Ge-
richtshöfen zur Verteidigung zugelassen. Für den
Mittelstand bemühte man sich, den Eisenbahn-,
Post-, Telegraphen= und Telephondienst zu er-
schließen und die Lage der kaufmännischen Ge-
hilfinnen durch Fortbildung, Fachbildung und
Organisation zu heben.
Das Streben nach verbesserter Stellung
im Recht richtet sich den Umständen entsprechend
zuerst auf das eheliche Güterrecht; das Ziel ist:
getrennte Güterverwaltung in der Ehe als Norm,
sowie Sicherung des mütterlichen Anteils an der
elterlichen Gewalt. Entgegen den dahin zielenden
Petitionen der deutschen Frauen blieb es 1900
aber bei dem alten Zuschnitt, daß das Vermögen
der Frau durch Eingehung der Ehe dem Manne
gehört. Teilerfolge sind das Verfügungsrecht der
Ehefrau über das von ihr in der Ehe Erworbene,
ihre Rechtsfähigkeit, die Berechtigung zur Vor-
mundschaft (in Berlin besteht ein Verband für
weibliche Vormundschaft von 290 Mitgl.) und der
(wenigstens nominelle) Ersatz der „väterlichen“
durch die „elterliche“ Gewalt gegenüber den ehe-
lichen Kindern. Das uneheliche Kind hat nach wie
vor keinen Vater, es wird nach der Mutter genannt.
Von dem engen Kreis der Privatfamilie führt
der Weg logischerweise zu den größeren organischen
Gemeinschaftsbildungen der bürgerlichen und
kirchlichen Gemeinde. Aus dem Pflicht-
bewußtsein heraus, auch hier mithelfen zu müssen,
sordert man das Recht, es zu tun, ein Recht, das
durch Abgabe der Stimme in Erscheinung tritt,
man will mittaten, aber auch mitraten. Das
Recht, in der Gemeinde mitzuarbeiten, sordert für
das weibliche Geschlecht seit 1905 das Kommunal=
programm der Deutschen Volkspartei (natur-
gemäß auch das Programm jeder Partei, die für
staatsbürgerliche Gleichberechtigung eintritt). Mehr
als 200 Städte haben bereits Frauen besoldet oder
ehrenamtlich zur Kommunalarbeit zugezogen. Wir
finden sie nicht nur wie bisher als Lehrerinnen und
Krankenpflegerinnen, sie sind auch herangezogen in
der Armen= und Waisen= und Säuglingspflege, in
Kinderschutz, Jugendfürsorge, Haus= und Wochen-
pflege, Rechtsauskunftsstellen, Arbeits= und Logis-
nachweis, Wohnungsinspektion, Gefängnisaussicht,
Polizeiassistenz. Unentbehrlich wird bald auch
die Mitarbeit der Frauen im stetig wachsenden
weiblichen Vereinswesen sein, das sich jetzt auch
auf die Dienstboten erstreckt. (Für diese wurde
katholischerseits 1906 der Verband katholischer
Dienstmädchenvereine gegründet; Verbandsorgan:
„Haus und Herd“.) In einzelnen Gemeinden in
Sachsen, Preußen, Bayern haben Frauen bereits
das (allerdings an Besitz geknüpfte) Recht zu
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