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dünnbevölkerten Gebieten auf deuische Verhält-
nisse, auf ein Land von 62 Millionen zu schließen.
Nur eine starke Regierung, nur ein staatsmänni-
sches Genie wird hier durch Erteilung des aktiven
Stimmrechts die Frauen heranziehen und seiner
Kunst zutrauen, aus der vergrößerten Mannig-
faltigkeit der Kräfte ein um so kunstvolleres Staats-
gebilde zu schaffen. Es ist denkbar, daß ein Staat
durch Auslösung und Heranziehung latenter
Frauenkräfte zu einer ungeahnten Höhe der Ent-
wicklung geführt werden könnte. Diese Hypothese
hat aber zur positiven Voraussetzung, daß die Ur-
zelle des Staatsbaues, die Familie, gesund sei,
daß das Frauengeschlecht auch im engsten Familien=
kreise seine vielseitigen Pflichten aufs ernsteste und
gewissenhafteste erfüllt. An Wichtigkeit und Trag-
weite kann keine Wirksamkeit des weiblichen Ge-
schlechts die hausmütterliche übertreffen; hier ist
das Weib unersetzlich. Was dieser Aufgabe schadet,
schadet der Gesamtheit. Durchdrungen von der
Verantwortlichkeit der mütterlichen Aufgabe, emp-
findet es das Weib als eine Kränkung, den Lehr-
lingen und Unmündigen gleichgestellt zu sein;
erfüllt von der Würde und Größe der Familien-
aufgabe, verlangt die deutsche Frau um dieser
Aufgabe willen staatsbürgerliche Rechte, nicht
um ihre Familienpflichten abzuschütteln, sondern
im Gegenteil um ihre unvergleichliche Bedeutung
recht gewürdigt zu sehen.
V. Entwicklung und Organisation. Das erste
geschichtliche Dokument zur Frauenbewegung nach
christlicher Zeitrechnung stammt aus der französischen
Revolution: die „Erklärung der Frauenrechte“ von
Olympe de Gouges, eine Nachbildung der Erklärung
der Menschenrechte. Eigenes gab zu gleicher Zeit die
Engländerin Mary Wollstonecraft in ihrem bahn-
brechenden Buch Vindication of the Rights of
Women. Das eigentliche standard-work der eng-
lischen Frauenbewegung wurde John Stuart Mills
Buch: Die Hörigkeit der Frau. — In Deutschland
war die erste Frau, die den Mut fand, ihre Stimme
öffentlich für das Wohl ihres Geschlechts zu er-
heben, Luise Otto-Peters (Meißen), eine überzeugte
bürgerliche Demokratin von 1848. Sie schloß sich
1865 in Leipzig mit gleichgesinnten Freundinnen,
darunter Auguste Schmidt, zu dem ersten, nicht
charitativen Zwecken dienenden deutschen Frauen-
verein zusammen, dem Allgemeinen Deut-
schen Frauenverein, der der Kristallisations-
punkt für die liberale Frauenbewegung geworden
ist; Vorsitzende Helene Lange; Vereinsorgan: „Neue
Bahnen“, gegenwärtig von Dr Gertrud Bäumer her-
ausgegeben. Es ist ein interessanter Beleg für den
ursächlichen Zusammenhang zwischen der Frauen-
frage und dem Übergang zum Industriestaat, daß
sie zuerst in Sachsen, einem Industriezentrum, er-
örtert worden ist. Zwar fällt in das gleiche Jahr
die Gründung des Lettevereins in Berlin;
er unterscheidet sich jedoch vom Allgemeinen Deut-
schen Frauenverein wesentlich, indem er die Frauen-
frage nur als Brotfrage faßte und sich dementspre-
chend auf den einen praktischen Zweck beschränkte,
die Frauen erwerbstüchtig zu machen. Vom All-
gemeinen Deutschen Frauenverein wurde auch die
Eründung des ersten deutschen Lehrerinnenvereins
Frauenfrage ufw.
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angeregt; 1869 riefen Auguste Schmidt und Marie
Calm den Verein deutscher Lehrerinnen
und Erzieherinnen ins Leben. Die katho-
lischen Lehrerinnen schlossen sich unter Pau-
line Herber 1885 zusammen (Sitz Boppard). Vor-
wiegend als Bildungsfrage wurde die Frauenfrage
auch von zwei Kreisen erkannt, die sich an die
Namen Henriette Schrader (Berlin) und Frau
J. Kettler (Weimar) als ihre Zentren knüpften.
Dem Schraderschen Kreis gehörten Helene Lange,
Marie Loeper-Housselle, Minna Cauer an, ins-
gesamt Frauen, die die weiblichen Bildungs-
möglichkeiten der Zeit für sich ausgeschöpft und
zu karg gefunden hatten. Dieser Kreis richtete
1887 die erste Petition an das preußische Mini-
sterium mit der Begleitschrift von Helene Lange:
„Die höhere Mädchenschule und ihre Bestim-
mung“. Dieser Schritt rückte die Frauenfrage in
das Licht der Offentlichkeit, er muß als der eigent-
liche Beginn des Kampfes um die Reformen be-
zeichnet werden. Mit diesem Schritt stand Helene
Lange im Zentrum der Bewegung. Frau J. Kettler
(Weimar) gründete 1888 den Verein Reform
mit dem Motto: Gleiche Bildung für Mann und
Frau; aus ihm sind Marie Stritt, Ika Freuden-
berg, Natalie v. Milde, Anita Augspurg hervor-
gegangen. Einen weiteren Fortschritt brachte im
gleichen Jahr die Gründung des Vereins Frauen-
wohl (Vorsitzende M. Cauer), von der Deutschen
akademischen Vereinigung ins Leben gerufen, „um die
gleichstrebenden Frauen zum gemeinsamen Wirken
für alle berechtigten Frauenbestrebungen der Gegen-
wart zusammenzufassen“. In diesem Verein begeg-
neten sich die weiblichen Personen, die in gleicher
Not waren, entweder äußerlich durch ihre Lage vor-
wärts gestoßen oder innerlich bedrängt und nach
Klarheit über die veränderte Lage ihres Geschlechts
ringend. Jedes Mitglied trug die Anregungen aus
dem Verein heim. So wurden ganze Kreise der
Hauptstadt in die Erörterung der Frauenfrage
hineingezogen. Der rührige Verein gründete als
sein Organ die „Frauenbewegung“; Herausgeberin
M. Cauer. Nun folgten die Vereinsgründungen ein-
ander schnell: 1889 Verein Jugendschutz, Vors.
Hanna Bieber-Böhm (Berlin), diedie sog. „Sittlich-
keitsbewegung“ wieder in Fluß bringt, nachdem sie
durch die Übersiedlung der Frau Guillaume-Schack
nach England scheinbar in Vergessenheit geraten
war. Zehn Jahre später wurde diese Bewegung, an-
knüpfend an die Bestrebungen von Frau Guillaume-
Schack, im Sinn der Internationalen Abolitioni-
stischen Föderation (1875 in England durch Mrs
Josephine Butler gegründet) durch Anna Pappritz
(Berlin) wieder ausgenommen. Jetzt zählt Deutsch-
land 15 Ortsgruppen der Föderation, in dem
„Deutschen Zweig der Internationalen Abolitionisti-
schen Föderation" zusammengeschlossen. Vorf. Kath.
Scheven (Dresden); Organ: „Der Abolitionist"“.
Ebenfalls 1889 Verein der weiblichen An-
gestellten im Handelsgewerbe, gegründet
von Julius Meyer (Berlin), jetzige Vors. Agnes
Herrmann; Organ: „Zeitschrift für weibliche Hand-
lungsgehilfinnen“. 1890 der Allgemeine
deutsche Lehrerinnenverein, gegrün-
det von Auguste Schmidt, Helene Lange, Marie
Loeper-Housselle; Sitz Berlin. Mitgliederzahl
22 000; 108 Vereine; Organ: „Die Lehrerin in
Schule und Haus", hrsg. von Marie Loeper-Houf-
selle. 1893 Gruppen für soziale Hilfs-