Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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was unter bestimmten Voraussetzungen zweckmäßig 
oder nützlich ist. Das Problem gehört der Rechts- 
philosophie, nicht der Politik an. Darum ist von 
den sog. staatsbürgerlichen Freiheiten oder Rechten 
gar nicht die Rede, ebensowenig von Gewerbefrei- 
heit, Handelsfreiheit, Unterrichtsfreiheit, und von 
Rede= und Preßfreiheit nur insoweit, als es sich 
dabei um jenen Kernpunkt handelt. 
2. Eine solche Erörterung muß notwendiger- 
weise an den höchsten der Eingangs d. Art. be- 
rührten Punkte anknüpfen. Der Mensch soll den 
ihm von Gott vorgesetzten Endzweck erfüllen, er 
soll an der Verherrlichung des Schöpfers, dem 
allgemeinen Zwecke aller Kreatur, mitwirken, er 
soll die ihm im Weltplane zugewiesene Stelle aus- 
füllen und in seiner Person die Idee der Mensch- 
heit realisieren. Das Mittel hierzu ist die Beobach- 
tung des Sittengesetzes, welches aus eben dieser 
Idee entworfen, welches das Gesetz der eigenen 
Natur des Menschen ist. Er erfüllt es mit Frei- 
heit, weil nur in der ungezwungenen, selbsttätigen 
Hingabe an den im Gesetze sich offenbarenden 
Willen Gottes der gottgewollte Wert seiner Hand- 
lungen beruht. Hieraus folgt sofort ein Doppeltes. 
Das erste ist das Selbstverständliche und auch aus- 
drücklich wohl niemals Geleugnete, daß jedem die 
volle Freiheit gewahrt werden muß, das zu tun, 
was sich in unzweifelhafter Weise als seine sitt- 
liche Pflicht darstellt, und daß weder ein einzelner 
noch die gesellschaftliche Autorität das Recht hat, 
ihn daran zu hindern. Das zweite aber ist, daß 
er da, wo es sich nur um seine eigensten Angelegen- 
heiten, um seine individuellen Zwecke han- 
delt, wo kein Interesse anderer im Spiele ist, zur 
Erfüllung seiner Pflicht weder von einem einzelnen 
noch von der gesellschaftlichen Autorität gezwungen 
werden darf. Von Kindern, die erst zu sittlichen 
Persönlichkeiten erzogen werden müssen, ist dabei 
nicht die Rede, auch nicht von besondern Standes- 
pflichten, die zwar in das Bereich der ganz indi- 
viduellen Betätigung fallen, deren Erfüllung aber 
trotzdem infolge der einmal freiwillig eingegange- 
nen Verbindlichkeit durch Zwangsmittel durchge- 
setzt werden kann. Nur von erwachsenen Menschen 
und nur von den aus dem natürlichen Sitten- 
gesetze stammenden Verpflichtungen ist die Rede; 
von ihnen gilt, daß der Mensch bezüglich der Er- 
füllung oder Nichterfüllung lediglich Gott und 
seinem Gewissen verantwortlich ist, daß mensch- 
liche Autorität nicht das Recht besitzt, in die Auto- 
nomie einzugreifen, welche Gott selbst dem Men- 
schen verliehen hat. 
Ganz anders dagegen, wo das Verhalten des 
Menschen über die rein individuelle Sphäre hin- 
ausgreift. Hier ist sofort einleuchtend, daß, wie 
er selbst in der Erfüllung seiner sittlichen Auf- 
gaben nicht gehindert werden darf, so er seine 
Freiheit mißbraucht, wenn er seinerseits andere 
zu hindern unternimmt. In solchem Falle ist die 
gesellschaftliche Autorität nicht nur befugt, 
sondern verpflichtet, die mißbräuchliche Ausdeh- 
Freiheit. 
  
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nung der individuellen Freiheit in ihre Schranken 
zurückzuweisen. Aber der Fall liegt ganz ebenso, 
wo das berechtigte Interesse der andern nicht ein 
Unterlassen, sondern ein positives Handeln ver- 
langt. Auch hierbei bleiben die auf freiwillig ge- 
schlosseneu Verträgen beruhenden, besonders be- 
stimmten Leistungen außer Betracht; aber wo Leben 
und Besitz des Nebenmenschen oder der Bestand 
des Gemeinwesens in Frage stehen, da ist Ab- 
wendung der Gefahr für den, der dazu imstande 
ist, nicht nur sittliche Pflicht, sondern die gesell- 
schaftliche Autorität erscheint aüch befugt, sie unter 
Umständen zu erzwingen. In unsern geordneten 
modernen Verhältnissen überlassen wir in der Regel 
das Löschen eines Brandes der dafür angestellten 
Feuerwehr, wie die Aufrechterhaltung von Ruhe 
und Sicherheit im Innern der Polizei und die 
Abwehr des äußern Feindes der Armee. Aber 
wer wollte der staatlichen Autorität die Befugnis 
bestreiten, daß sie, wo jene gewohnten Mittel ver- 
sagten oder nicht zur Stelle wären, alle nur irgend- 
wie verfügbaren Arme für einen jener Zwecke in 
Anspruch nähme, und wenn nötig, einen solchen 
Anspruch mit Zwangsmitteln durchsetzte? Das 
also ist die allgemeinste Lösung der Frage: die 
berechtigte Freiheit des Individuums findet da 
ihre Grenzen, wo ihre weitere Ausdehnung zur 
Schädigung Dritter oder des Gemeinwesens füh- 
ren würde. Niemand darf zu dem Guten genötigt 
werden, das nur ihm selbst nützt, keiner an dem 
Bösen verhindert, das nur ihm allein schadet; nie- 
mand dagegen kann sich auf sein individuelles 
Belieben zurückziehen, wo sein positives oder ne- 
gatives Verhalten über die rein individuelle Sphäre 
hinausreicht. Aber die Schwierigkeit beginnt, wenn 
es gilt, die genaue Grenze dieser Sphäre festzu- 
setzen. Die bisherige Erörterung bedarf daher der 
Ergänzung durch Anwendung des allgemeinen 
Prinzips auf ein bestimmtes, konkretes Gebiet. 
Hierzu ist keines geeigneter als das des religiösen 
Lebens; zudem ist in der modernen Welt um keine 
andere Freiheit leidenschaftlicher und nachhaltiger 
gestritten worden als um die Religionsfreiheit. 
3. Seine Gedanken und Empfindungen hat ein 
jeder für sich; hier liegt die letzte, aber auch völlig 
uneinnehmbare Feste seiner Freiheit. Es ist das 
äußerste Extrem des Fanatismus und der Tor- 
heit, in das Innere des Menschen mit Zwang 
eingreifen zu wollen. Ich wiederhole, daß es sich 
dabei nur um den erwachsenen, im vollen Ge- 
brauche seiner geistigen Kräfte befindlichen Men- 
schen handelt. Ginge also Religion vollkommen 
in Gedanken und Empfindungen auf, so müßte 
die religiöse Freiheit als eine ganz abso- 
lute gelten. Wer zwar mit der christlichen Philo- 
sophie daran festhält, daß die Existenz einer ein- 
heitlichen schöpferischen Ursache, eines persönlichen 
Gottes, von der Vernunft mit voller Gewißheit 
erkannt werden kann, leitet daraus die Gottes- 
verehrung als sittliche Pflicht des Menschen ab. 
Aber daraus folgt nicht, wie die vorangeschickte
	        
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