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allgemeine Erörterung festgestellt hat, daß diese
sittliche Pflicht von seiten einer menschlichen Auto-
rität mit Zwang durchgesetzt werden dürfe. Wer
ferner mit dem gläubigen Christen in der auf gött-
licher Offenbarung beruhenden christlichen Reli-
gion die eine und ausschließliche Wahrheit erkennt,
wird in der freiwilligen Abkehr von der geoffen-
barten Wahrheit eine schwere Verirrung erblicken;
Zwang aber darf auch er nicht fordern, ja noch
viel weniger, da es sich hier nicht um eine ver-
nünftige Erkenntnis, ein Wissen handelt, das sich
allen in gleicher Weise darstellt, sondern um
gläubige Annahme, die eine Tat des Willens ist.
Hierüber also ist kein Zweifel: für religiöses Den-
ken und Empfinden muß und kann allein völlige
Freiheit herrschen. Aber die so formulierte Wahr-
heit entbehrt jeder praktischen Bedeutung. Prak-
tische Wichtigkeit hat erst die Frage: Wie steht es
mit der Kundgebung der religiösen Gedanken
und Empfindungen nach außen, sei es durch die
denselben entsprechenden Kultushandlungen, sei es
durch Mitteilung und Verbreitung der eigenen
religiösen Ansichten in Wort und Schrift?
Was das erste betrifft, so gilt zunächst, daß nie-
mand zu einer Kultushandlung, einer religiösen
Verrichtung gezwungen werden darf. Erzwingen
läßt sich zudem immer nur die äußere Form der
Handlung, nicht die innerliche Hinwendung des
Geschöpfes zum Schöpfer in Verehrung und Liebe.
Gerade der Gläubige muß einsehen, daß die An-
wendung des Zwanges in religiösen Dingen ebenso
unberechtigt ist, wie sie im letzten Grunde unmög-
lich ist. Nicht so einfach zu beantworten aber ist
die andere Frage, ob nun auch umgekehrt ein jeder
die volle Freiheit habe, diejenigen Kultushand-
lungen zu verrichten, die seinen religiösen Empfin-
dungen entsprechen oder die ihm durch seine reli-
giöse Uberzeugung zur Pflicht gemacht werden?
Wäre freilich das Christentum die einzige und all-
gemein herrschende Religion, und gäbe es tatsäch-
lich nur ein christliches Bekenntnis, so würde sie
einstimmig bejaht oder vielmehr, sie würde gar
nicht aufgeworfen werden. Nun aber stehen der
alten Kirche seit dem 16. Jahrh. die verschiedenen
andern christlichen Religionsgesellschaften gegen-
über und den Christen überhaupt die Millionen
Mohammedaner, Buddhisten und Heiden, und
Freiheit.
dazu hat der wachsende Weltverkehr die einzelnen
Völker, Religionen und Bekenntnisse längst aus
ihrer Isoliertheit herausgeführt und miteinander
in Berührung gebracht. Können diese sämtlich
ohne Unterschied, kann auch die abschreckendste Form
heidnischer Vielgötterei Kultusfreiheit für sich be-
anspruchen? Wenn aber nicht, welches Prinzip
läßt sich aufstellen, demzufolge sie wohl in dem
einen, nicht aber in den andern Fällen zuzu-
erkennen ist?
Die Antwort scheint nahezuliegen: volle Frei-
heit eigne selbstverständlich nur der wahren
Religion, welche der Natur der Sache nach nur
eine sein könne; ihr gottverliehenes Recht sei es,
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sich in jeder Weise nach außen zu betätigen; für
Irrtum und Wahn aber könne es ebenso selbst-
verständlich ein solches Recht nicht geben. Allein
diese Antwort führt aus mehr als einem Grunde
nicht zum Ziele. Es gibt kein Recht des Irr-
tums, d. h. es ist keineswegs sittlich gleichwertig,
ob ich der Wahrheit oder ihrem Gegenbilde nach-
strebe und anhänge; es ist unsittlich, sich der er-
kannten Wahrheit zu verschließen. Aber damit
ist noch nicht die Befugnis einer menschlichen
Autorität begründet, jeder nach außen tretenden
Irrtumsregung mit Zwangsmitteln zu begegnen.
Die wahre Religion kann nur eine sein, aber
noch stehen durch Gottes Zulassung Millionen von
Menschen außerhalb des Christentums, und die
Christenheit selber ist religiös in sich gespalten.
Für den Gläubigen besteht kein Zweifel, daß er zu
den Bekennern der wahren Religion gehört; aber
diese Gewißheit ist ihm durch den Glauben ver-
mittelt, den er andern nicht aufzuzwingen vermag;
jeder Gläubige hält seine Religion für die wahre.
Damit ist nicht dem Vorrecht der allein wahren
Religion gegenüber der Indifferentismus ver-
kündet, sondern lediglich ein faktischer Zustand
ausgesprochen.
Das gesuchte Prinzip kann kein anderes sein
als das zuvor ganz allgemein aufgestellte. Die
individuelle Freiheit hört auf, eine berechtigte zu
sein, wo sie eine Verletzung anderer einschließt.
Dies ist nun keineswegs nur der Fall, wo Leib.
und Leben, Ehre und Eigentum und die gesamten
materiellen Interessen Dritter oder der Gesamt-
heit auf dem Spiele stehen, vielmehr gibt es ohne
Frage auch eine Verletzung berechtigter Gefühle,
welche die gesellschaftliche Autorität abzuwehren
berufen und um derentwillen sie die individuelle
Freiheit einzuschränken befugt ist. Wird ein-
gewandt, daß damit ein schwankender und begriff-
lich schwer zu fassender Faktor in die Erörterung
eingeführt werde, so ist zu erwidern, daß dieser
Faktor ein tatsächlich innerhalb gewisser Schranken
anerkannter und wirksamer ist. Dies beweist der
in der modernen Gesetzgebung festgehaltene Be-
griff des Argernisses. Handlungen werden unter
Strafe gestellt nicht wegen ihrer Natur an sich,
sondern weil durch dieselben Argernis gegeben,
d. h. das als berechtigt anerkannte sittliche oder
religiöse Gefühl anderer verletzt wird. — Welche
Gefühle aber haben als berechtigte zu gelten? Die
sittlichen mögen auf sich beruhen, über sie sollte kein
Streit sein. Die religiösen Gefühle aber schließen
sich an die besondern Vorstellungen, die bestimmten
Dogmen, die Einrichtungen und Gewohnheiten
der einzelnen Religionen an; sie sind deshalb
ebenso verschieden wie diese letzteren. Jeder Gläu-
bige wird den Schutz des Rechts für die seinigen
verlangen und zunächst nur für die seinigen; einem
Ungläubigen aber erscheint vielleicht jegliches reli-
giöse Gefühl nur als ein Überrest von Unwissenheit
und Aberglauben, dem keinerlei Berechtigung zu-
komme, wenn er nicht gar bis zu der Erklärung