Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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fortgeht, daß er seinerseits an allem öffentlich zur 
Schau getragenen Offenbarungsglauben Argernis 
nehme und auch Schonung seiner Gefühle ver- 
lange. Hiernach bleibt nur eines übrig: entweder 
man verzichtet auf eine allgemeine Lösung und 
verlangt ausdrücklich den Schutz der religiösen 
Gefühle nur zugunsten eines bestimmten Bekennt- 
nisses — ein Standpunkt, dessen praktische Durch- 
führung aus den früher angegebenen Gründen 
von Tag zu Tag schwieriger wird —, oder man 
findet das Prinzip darin, daß diejenigen religiösen 
Gefühle als berechtigt zu gelten haben, welche an- 
erkanntermaßen die des überwiegenden Teiles der 
Bevölkerung sind. 
Von entgegengesetzter Seite wird gegen eine 
solche Aufstellung Widerspruch erhoben werden. 
Soll also auch, werden die einen sagen, der ge- 
bildete, aufgeklärte Europäer sich pflichtgemäß vor 
den grundlosen Vorurteilen einer auf niederer 
Stufe stehenden Völkerschaft zurückziehen? Bei 
Stuart Mill (On Liberty) findet sich als 
Beispiel eines völlig irrationellen, aber durch reli- 
giöse Vorstellungen getragenen und mit größter 
Energie wirksamen Gefühls der Abscheu der 
Mohammedaner vor dem Genusse des Schweine- 
fleisches. Wäre es nicht der Gipfel des Lächer- 
lichen, einem mohammedanischen Gemeinwesen 
ausdrücklich das Recht zuzuerkennen, den öffent- 
lichen (denn das ist hier immer vorausgesetzt) 
Genuß dieses Nahrungsmittels unter Strafe zu 
stellen? Ich glaube nicht. Wenn tatsächlich in 
einem Gemeinwesen ein derartiges Gefühl all- 
gemein lebendig ist, so sehe ich nicht ein, warum 
man nicht berechtigt sein soll, demselben Geltung 
zu verschaffen. Das Gefühl mag töricht, grund- 
los, unwirtschaftlich sein, dann versuche man es 
allmählich auf dem Wege der Bildung zu über- 
winden. Im übrigen mag, wer auf den Genuß 
von Schweinefleisch nicht verzichten will, von 
mohammedanischen Gegenden fernbleiben, und 
wer gegen seinen Willen dorthin verschlagen ist, 
der tröste sich über solche Einschränkung seiner 
Freiheit mit dem Gedanken, daß auch sonst wohl 
das friedliche Nebeneinanderleben der Menschheit 
den Verzicht auf sittlich Zulässiges zur Notwendig- 
keit mache. 
Weit beachtenswerter aber ist ohne Frage, was 
von gläubigem Standpunkt eingewendet wer- 
den wird. Wenn ganz allgemein das in einer 
Bevölkerung vorherrschende religiöse Gefühl als 
solches für berechtigt gilt und die Befugnis gibt, 
eine offenbare Verletzung desselben zu reprimieren, 
so waren die Juden Christus gegenüber im Recht, 
denn seine Reden und Handlungen mußten ihrem 
ganzen religiös-nationalem Empfinden zum Arger- 
nis gereichen; so waren und sind es die Heiden 
und Ungläubigen den Christen gegenüber, und 
doch muß mit dem Auftrag, das Evangelium allen 
Völkern zu predigen, auch das Recht verbunden sein, 
diesem Auftrag unbekümmert um entgegenstehende, 
im Volksleben wurzelnde Gefühle nachzukommen. 
Freiheit. 
  
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Ich will kein Gewicht darauf legen, daß Stuart 
Mill das gleiche Argument in gerade entgegen- 
gesetzter Richtung zu verwerten sucht, nicht also, 
um das unbestreitbare Vorrecht der einen Wahr- 
heit dadurch zu illustrieren, sondern um vom 
Standpunkte seines skeptischen Relativismus aus 
die Notwendigkeit völlig schrankenloser Freiheit 
der Meinungsäußerung zu begründen. Ich wende 
mich nur nach der Seite, von welcher aus hier der 
Einwand erhoben wurde. Mit dem Satze, daß 
ein in einer Bevölkerung vorherrschendes 
religiöses Gefühl in dem Sinne als berechtigt zu 
gelten habe, daß der einzelne im Namen seiner 
Freiheit nicht beanspruchen könne, dasselbe straflos 
zu verletzen, ist nicht behauptet, daß ein solches Ge- 
fühl nicht reformbedürftig und reformfähig 
sein und daß ein einzelner nicht versuchen könne, 
von höherer Einsicht geleitet und echter Menschen- 
liebe getrieben, umgestaltend und veredelnd auf 
seine Umgebung einzuwirken. Häufig genug wird 
ein solcher Versuch scheitern, oder es wird der Er- 
folg erst eintreten, nachdem vielleicht der erste 
Urheber es längst mit dem Leben gebüßt hat, daß 
er den Kampf mit eingewurzelten Vorurteilen 
aufnahm. Für den Ungläubigen ist das Auf- 
treten Christi, die Verhärtung der Juden gegen 
ihn und sein Tod am Kreuze ein welthistorischer 
Konflikt, wie er in solcher Größe und Tragik 
zwar nie, in minderem Grade aber auch sonst 
wohl vorgekommen ist, wo der Vertreter einer neu 
anbrechenden Epoche mit dem historisch über- 
lieferten zusammenstieß. Anders der Gläubige. 
Weil der Glaube eine Tat des Willens ist, darum 
gibt es eine sittliche Pflicht, zu glauben. Diese 
Pflicht tritt ein, wo die Tatsache einer göttlichen 
Offenbarung sich der Vernunft mit überwiegenden 
Gründen aufdrängt. Aus den Reden und Taten 
des Heilandes aber, aus seiner ganzen Person 
mußte den Zeugen seines Wirkens, so sie guten 
Willens waren, der volle Strahl des Göttlichen 
entgegenleuchten, dessen Widerschein wir deutlich 
in den evangelischen Berichten finden. Für sie 
bestand darum die Pflicht, eine Reform ihrer 
bisherigen Denkweise und des überkommenen reli- 
giös-nationalen Empfindens eintreten zu lassen; 
es war ihre schwere Schuld, wenn sie sich statt 
dessen im Argernis verstockten. — Ahnliches gilt 
von dem Rechte der Glaubensboten, den Heiden 
das Evangelium zu predigen auf die Gefahr hin, 
ihnen durch die Verkündigung der christlichen 
Wahrheit Argernis zu geben. Ihr Recht ist nicht, 
die Gefühle anderer zu verletzen, sondern mit den 
Mitteln der Belehrung und persönlichen liebe- 
vollen Verkehrs läuternd und reinigend auf diese 
Gefühle einzuwirken. Sie entnehmen dieses Recht 
nichtdemschrankenlosen Belieben des Individuums, 
zu tun, was ihm beliebt, sofern dadurch kein Drit- 
ter an Leben, Leib und Besitz geschädigt wird. 
sondern einem höheren Auftrage, dessen göttlicher 
Ursprung ihnen zweifellos feststeht, den sie jeder- 
zeit mit ihrem Blute zu befiegeln bereit sind. Auf
	        
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