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fortgeht, daß er seinerseits an allem öffentlich zur
Schau getragenen Offenbarungsglauben Argernis
nehme und auch Schonung seiner Gefühle ver-
lange. Hiernach bleibt nur eines übrig: entweder
man verzichtet auf eine allgemeine Lösung und
verlangt ausdrücklich den Schutz der religiösen
Gefühle nur zugunsten eines bestimmten Bekennt-
nisses — ein Standpunkt, dessen praktische Durch-
führung aus den früher angegebenen Gründen
von Tag zu Tag schwieriger wird —, oder man
findet das Prinzip darin, daß diejenigen religiösen
Gefühle als berechtigt zu gelten haben, welche an-
erkanntermaßen die des überwiegenden Teiles der
Bevölkerung sind.
Von entgegengesetzter Seite wird gegen eine
solche Aufstellung Widerspruch erhoben werden.
Soll also auch, werden die einen sagen, der ge-
bildete, aufgeklärte Europäer sich pflichtgemäß vor
den grundlosen Vorurteilen einer auf niederer
Stufe stehenden Völkerschaft zurückziehen? Bei
Stuart Mill (On Liberty) findet sich als
Beispiel eines völlig irrationellen, aber durch reli-
giöse Vorstellungen getragenen und mit größter
Energie wirksamen Gefühls der Abscheu der
Mohammedaner vor dem Genusse des Schweine-
fleisches. Wäre es nicht der Gipfel des Lächer-
lichen, einem mohammedanischen Gemeinwesen
ausdrücklich das Recht zuzuerkennen, den öffent-
lichen (denn das ist hier immer vorausgesetzt)
Genuß dieses Nahrungsmittels unter Strafe zu
stellen? Ich glaube nicht. Wenn tatsächlich in
einem Gemeinwesen ein derartiges Gefühl all-
gemein lebendig ist, so sehe ich nicht ein, warum
man nicht berechtigt sein soll, demselben Geltung
zu verschaffen. Das Gefühl mag töricht, grund-
los, unwirtschaftlich sein, dann versuche man es
allmählich auf dem Wege der Bildung zu über-
winden. Im übrigen mag, wer auf den Genuß
von Schweinefleisch nicht verzichten will, von
mohammedanischen Gegenden fernbleiben, und
wer gegen seinen Willen dorthin verschlagen ist,
der tröste sich über solche Einschränkung seiner
Freiheit mit dem Gedanken, daß auch sonst wohl
das friedliche Nebeneinanderleben der Menschheit
den Verzicht auf sittlich Zulässiges zur Notwendig-
keit mache.
Weit beachtenswerter aber ist ohne Frage, was
von gläubigem Standpunkt eingewendet wer-
den wird. Wenn ganz allgemein das in einer
Bevölkerung vorherrschende religiöse Gefühl als
solches für berechtigt gilt und die Befugnis gibt,
eine offenbare Verletzung desselben zu reprimieren,
so waren die Juden Christus gegenüber im Recht,
denn seine Reden und Handlungen mußten ihrem
ganzen religiös-nationalem Empfinden zum Arger-
nis gereichen; so waren und sind es die Heiden
und Ungläubigen den Christen gegenüber, und
doch muß mit dem Auftrag, das Evangelium allen
Völkern zu predigen, auch das Recht verbunden sein,
diesem Auftrag unbekümmert um entgegenstehende,
im Volksleben wurzelnde Gefühle nachzukommen.
Freiheit.
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Ich will kein Gewicht darauf legen, daß Stuart
Mill das gleiche Argument in gerade entgegen-
gesetzter Richtung zu verwerten sucht, nicht also,
um das unbestreitbare Vorrecht der einen Wahr-
heit dadurch zu illustrieren, sondern um vom
Standpunkte seines skeptischen Relativismus aus
die Notwendigkeit völlig schrankenloser Freiheit
der Meinungsäußerung zu begründen. Ich wende
mich nur nach der Seite, von welcher aus hier der
Einwand erhoben wurde. Mit dem Satze, daß
ein in einer Bevölkerung vorherrschendes
religiöses Gefühl in dem Sinne als berechtigt zu
gelten habe, daß der einzelne im Namen seiner
Freiheit nicht beanspruchen könne, dasselbe straflos
zu verletzen, ist nicht behauptet, daß ein solches Ge-
fühl nicht reformbedürftig und reformfähig
sein und daß ein einzelner nicht versuchen könne,
von höherer Einsicht geleitet und echter Menschen-
liebe getrieben, umgestaltend und veredelnd auf
seine Umgebung einzuwirken. Häufig genug wird
ein solcher Versuch scheitern, oder es wird der Er-
folg erst eintreten, nachdem vielleicht der erste
Urheber es längst mit dem Leben gebüßt hat, daß
er den Kampf mit eingewurzelten Vorurteilen
aufnahm. Für den Ungläubigen ist das Auf-
treten Christi, die Verhärtung der Juden gegen
ihn und sein Tod am Kreuze ein welthistorischer
Konflikt, wie er in solcher Größe und Tragik
zwar nie, in minderem Grade aber auch sonst
wohl vorgekommen ist, wo der Vertreter einer neu
anbrechenden Epoche mit dem historisch über-
lieferten zusammenstieß. Anders der Gläubige.
Weil der Glaube eine Tat des Willens ist, darum
gibt es eine sittliche Pflicht, zu glauben. Diese
Pflicht tritt ein, wo die Tatsache einer göttlichen
Offenbarung sich der Vernunft mit überwiegenden
Gründen aufdrängt. Aus den Reden und Taten
des Heilandes aber, aus seiner ganzen Person
mußte den Zeugen seines Wirkens, so sie guten
Willens waren, der volle Strahl des Göttlichen
entgegenleuchten, dessen Widerschein wir deutlich
in den evangelischen Berichten finden. Für sie
bestand darum die Pflicht, eine Reform ihrer
bisherigen Denkweise und des überkommenen reli-
giös-nationalen Empfindens eintreten zu lassen;
es war ihre schwere Schuld, wenn sie sich statt
dessen im Argernis verstockten. — Ahnliches gilt
von dem Rechte der Glaubensboten, den Heiden
das Evangelium zu predigen auf die Gefahr hin,
ihnen durch die Verkündigung der christlichen
Wahrheit Argernis zu geben. Ihr Recht ist nicht,
die Gefühle anderer zu verletzen, sondern mit den
Mitteln der Belehrung und persönlichen liebe-
vollen Verkehrs läuternd und reinigend auf diese
Gefühle einzuwirken. Sie entnehmen dieses Recht
nichtdemschrankenlosen Belieben des Individuums,
zu tun, was ihm beliebt, sofern dadurch kein Drit-
ter an Leben, Leib und Besitz geschädigt wird.
sondern einem höheren Auftrage, dessen göttlicher
Ursprung ihnen zweifellos feststeht, den sie jeder-
zeit mit ihrem Blute zu befiegeln bereit sind. Auf