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ihr Beispiel kann man sich nicht berufen, um
Staaten mit überwiegend christlicher Bevölkerung
einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie eine
Verletzung der religiösen Gefühle durch öffentliche
Handlungen unter Strafe stellen.
Das also ist die Ergänzung, welche die Erör-
terung der Religionsfreiheit zu dem früher Auf-
gestellten hinzugebracht hat. Die Schranke der
individuellen Autonomie liegt nicht nur da, wo
eine Handlung Dritte an der Erfüllung ihrer in
der sittlichen Ordnung begründeten Zwecke und
Aufgaben stören, sie an Leben und Leib, an Besitz
und persönlicher Ehre schädigen, sondern auch da,
wo eine Handlung durch Verletzung bestehender
und als berechtigt anerkannter Gefühle öffentliches
Argernis geben würde. Die staatliche Autorität
ist daher zwar weder befähigt noch befugt, das
religiöse Denken und Empfinden unter Kontrolle
zu stellen, aber sie kann nicht im Namen der
rechtlichen Freiheit verpflichtet werden, jedwede
aus solchem Denken und Empfinden hervor-
gehende Handlung in der Offentlichkeit zu-
zulassen.
Dafß diese Schranke eine veränderliche und ver-
schiebbare ist, liegt in der Natur der Sache. Die
Geschichte der modernen Welt zeigt sie in stetigem
Zurückweichen vor der sich ausbreitenden indivi-
duellen Freiheit. Solange ein einziges Bekenntnis
in einem Gemeinwesen herrscht, wird jede Hand-
lung verletzen, welche sich mit irgend einem Be-
standteile desselben öffentlich in Widerspruch ver-
setzt. Hat dagegen der Gang der Ereignisse dahin
geführt, daß tatsächlich mehrere Bekenntnisse
nebeneinander bestehen, so wird zwar vielleicht die
direkte Beschimpfung einer einzelnen Religions-
gesellschaft auch jetzt noch unter Strase gestellt
werden, der Schutz des religiösen Gefühls aber,
welcher allgemein dem Argernis vorbeugt, wird
sich auf das den verschiedenen Bekenntnissen Ge-
meinsame beschränken. Umgekehrt, muß sich das
religiöse Gefühl des Bekenntnisgläubigen einmal
daran gewöhnen, öffentliche Kulthandlungen an-
derer Bekenntnisse neben sich zu dulden, erfährt es
eben dadurch nach Umfang und Intensität un-
vermeidlich eine Minderung, so wird eben dies
wiederum dahin wirken, daß das Aufkommen von
immer neuen Sekten und Kulten ohne Widerspruch
ertragen wird. Von hier aus begreift sich daher
vollkommen der Wert, den man stets auf kirch-
lichem Standpunkte der Glaubenseinheit eines
Volkes beigemessen hat; mit der Zulassung meh-
rerer Bekenntnisse ist zugleich dem religiösen In-
differentismus der Weg geebnet.
Von den oben aufgeworfenen Fragen bleibt nun-
mehr noch die zweite zu beantworten. Zu einem
Teile ist dies allerdings bereits geschehen. Aus
der vom Recht zu wahrenden individuellen Frei-
heit kann offenbar nicht die Befugnis abgeleitet
werden, jedweder Meinung über religiöse Dinge
durch Wort und Schrift öffentliche Verbreitung
zu geben. Eine solche besteht, ebenso wie bei den
Freiheit.
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Handlungen, da nicht, wo durch die Verbreitung
Argernis gegeben, d. h. das religiöse Gefühl der
Bevölkerung verletzt wird. Aber es kommt hier
noch ein weiteres Moment hinzu. Der gesicherte
Bestand des Gemeinwesens beruht nicht auf der
physischen Macht der Staatsgewalt und auch nicht
auf dem egoistischen Interesse der Bürger, sondern
zuletzt auf der Hochhaltung von Gesetz und Recht,
auf der Anerkennung der sittlichen Pflicht, sich dem
Gemeinwesen einzuordnen und dem eigenen Be-
lieben diejenigen Grenzen zu setzen, welche aus den
berechtigten Interessen der übrigen und der Ge-
samtheit stammen. Diese Anerkennung aber schließt
der Natur der Sache nach notwendig die Annahme
eines engeren und weiteren Kreises von theoreti-
schen Wahrheiten ein. Überzeugungen wie die,
daß es einen Unterschied des Guten und Bösen
gibt, daß die Menschen für ihre Taten verant-
wortlich sind, daß die bürgerliche Autorität das
Recht besitzt, den Verbrecher vor ihr Forum zu
ziehen und mit Strafe zu belegen usw., bilden
die unentbehrliche und darum als ganz selbstver-
ständlich vorausgesetzte Grundlage jeder Rechts-
pflege. Andere Wahrheiten treten als gleichwertige
zu ihnen hinzu, oder sie bilden Voraussetzungen
und logische Konsequenzen der ersteren. Die Ver-
suche, eine sog. unabhängige, d. h. von dem gött-
lichen Urheber des Sittengesetzes absehende Moral
zu begründen, haben zu keinem Ergebnisse führen
können. Tatsächlich ist die Anerkennung und Heilig-
haltung des persönlichen Gottes der Grund= und
Eckstein der theoretischen Moral wie der praktischen
Sittlichkeit. Das Gemeinwesen hat deshalb ein
unzweifelhaftes Interesse daran, daß diese Wahr-
heiten in der Uberzeugung der Bürger unerschüttert
bleiben. Sie ist eben darum berechtigt, eine öffent-
liche Bestreitung derselben in Wort und Schrift
zu verbieten und unter Strafe zu stellen.
Diese Auffassung tritt in entschiedenen Gegen-
satz zu der gewöhnlichen Meinung, wenn dieselbe
auch nicht überall mit solcher Konsequenz durch-
geführt erscheint, wie bei dem mehrfach genannten
englischen Philosophen. Stuart Mill verlangt in
der Tat die unbedingteste Freiheit der Meinungs-
äußerung, und zwar, wie er meint, im ausdrück-
lichen Interesse der menschlichen Gesellschaft. Alle
Fragen ohne Ausnahmen, und die höchsten zuerst,
müßten der freiesten Diskussion unterstellt werden,
niemals dürfe die bürgerliche Autorität zugunsten
einer Meinung dadurch Partei ergreifen, daß sie
die entgegenstehende mit Gewalt unterdrückt. Denn
die unterdrückte sei entweder wahr oder falsch. Im
ersteren Falle sei die Unterdrückung ein Raub an
der Menschheit, im andern Falle werde übersehen,
daß nur in stetem Kampfe gegen Anzweiflung die
Wahrheit sich bewähre und lebendig erhalte. Zu-
dem aber schließe die Unterdrückung einer Meinung
als einer unwahren stets die grundlose Voraus-
setzung eigener Unfehlbarkeit ein.
Diese Ausführungen, die hier natürlich nicht
ins einzelne verfolgt werden können, leiden an