Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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einem doppelten Mangel. Der eine ist zugleich 
der Grundirrtum der gesamten Millschen Philo- 
sophie, die Leugnung einer absoluten Wahr- 
heit. Alle Wahrheiten gelten hier nur auf Vor- 
behalt, und solange sie nicht durch die fortschreitende 
Erfahrung berichtigt werden. Aber es gibt Wahr- 
heiten, die ein für allemal gültig sind, weil sie 
notwendig sind. Zu ihnen gehören nicht nur die 
mathematischen, sondern auch die höchsten meta- 
physischen und moralischen Wahrheiten. Eben- 
darum kann das Verbot ihrer öffentlichen Bestrei- 
tung oder der Verbreitung des entgegengesetzten 
Irrtums nicht als eine Hinderung des Erkenntnis- 
fortschrittes bezeichnet werden. Und dann: wenn 
auch von theoretischen Uberzeugungen nicht minder 
wie von andern Gütern gelten mag, daß man 
vollkommen nur besitzt, was man erworben hat, so 
geht doch ohne Zweifel die Meinung viel zu weit, 
daß um dessentwillen die öffentliche Bestreitung 
überkommener Wahrheiten im weitesten Umfange 
gestattet werden müsse. Eine Bestreitung von 
Wahrheiten, welche unmittelbar einleuchten und 
darum keinen wirklichen Zweifel zulassen, hat 
keinen Sinn und wird auch nicht unternommen. 
Wohl aber findet sie statt solchen Wahrheiten 
gegenüber, welche eines Beweises bedürfen. 
Dieselben können ebenso gewiß sein wie jene 
andern, aber sie sind es in vollem Maße nur für 
den, welcher dem Gange des Beweises zu folgen 
vermag und den notwendigen Zusammenhang 
seiner einzelnen Glieder eingesehen hat. Ihnen 
gegenüber ist daher Bestreitung möglich, und sie 
kann insofern erfolgreich sein, als nicht jedermann 
die Bedeutung wissenschaftlicher Argumente richtig 
zu schätzzun weiß und daher oft genug der auf 
scheinbare Argumente gestützte Irrtum an Stelle 
der Wahrheit ergriffen wird. Dies geschieht um 
so leichter, wenn es sich nicht um rein theoretische 
Lehrsätze handelt, sondern um solche, bei denen 
alsbald die Interessen und Leidenschaften, 
diese schlimmsten aller Sophisten, mit ins Spiel 
kommen. Es ist ein gefährlicher Optimismus, 
darauf zu vertrauen, daß die Wahrheit sich doch 
immer wieder Bahn brechen werde; denn man 
weiß nicht, welche Verheerungen der Irrtum in- 
zwischen angerichtet haben wird. Ich halte es 
daher allerdings für das gute Recht der bürger- 
lichen Gesellschaft, diejenigen Wahrheiten, auf 
deren Geltung ihr geordneter Bestand beruht, mit 
dem Schutze des Gesetzes zu umgeben und die 
öffentliche Verbreitung entgegengesetzter Irrtümer, 
deren Konsequenzen zu einer Auflösung derselben 
führen würden, unter Strafe zu stellen. Der 
Umfang dieser Wahrheiten läßt sich allerdings 
nicht in einer allgemein gültigen Weise bestimmen. 
Wo ein Volk in der überwiegenden Mehrheit seiner 
Glieder an einem bestimmten kirchlichen Bekennt- 
nisse festhält, wird man eben dieses mit allem, was 
es einschließt, dazu rechnen; wo mehrere Bekennt- 
nisse nebeneinander bestehen, das, was diesen ge- 
meinsam ist, bis zuletzt nur die Wahrheiten der 
Staatslexikon. II. 3. Aufl. 
Freiheit. 
  
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natürlichen Religion übrigbleiben: Dasein Gottes, 
Unsterblichkeit der Seele, dereinstige Vergeltung 
des Guten und Bösen. 
Die moderne Gesetzgebung hat diesen Stand- 
punkt ziemlich allgemein aufgegeben und auch der 
Propaganda des krassesten Materialismus und 
Atheismus keinerlei Hindernis mehr in den 
Weg gelegt. Im besten Falle begnügt man sich 
unter Würdigung des zuvor erörterten Gesichts- 
punktes, Argernis erregende Gotteslästerung und 
die Beschimpfung von Einrichtungen einer an- 
erkannten Religionsgesellschaft" strafrechtlich zu re- 
primieren. Ob diese Entwicklung eine glückliche 
gewesen ist, darüber wird vielleicht eine nahe Zu- 
kunft das Urteil sprechen. Hier kam es nur darauf 
an, die Behauptung zu begründen, daß die recht- 
liche Freiheit des Individuums nicht den Anspruch 
einschließt, jede Meinung über religiöse Dinge, 
die der einzelne für sich hegen mag, durch Wort 
und Schrift öffentlich zu verbreiten, und daß die 
bürgerliche Autorität keineswegs unter allen Um- 
ständen ihre Befugnis überschreitet, wenn sie es 
unternimmt, solcher Verbreitung Schranken zu 
utzen. 
gr Ergebnis der bisherigen Erörterung ist 
festzustellen: Niemand darf zu einem bestimmten 
religiösen Bekenntnis oder zu einer bestimmten 
religiösen Handlung gezwungen werden; einem 
jeden muß es überlassen bleiben, seine Stellung 
zu den religiösen Fragen selbst zu bestimmen und 
sein religiöses Leben nach eigenem Ermessen zu 
gestalten, solange er nicht durch seine Handlungen 
die religiösen Gefühle anderer verletzt oder durch 
die Verbreitung seiner Ansichten die theoretischen 
Grundlagen des bürgerlichen Gemeinwesens unter- 
gräbt. 
Noch zwei kurze Bemerkungen mögen folgen. 
Der Streit um die religiöse Freiheit ist geschicht- 
lich zumeist nicht, und jedenfalls nicht zuerst in 
der hier versuchten prinzipiellen Zuspitzung des 
Problems aufgetreten. Nicht das unveräußerliche 
Recht des Individuums und das berechtigte Inter- 
esse des Gemeinwesens waren die Gegensätze, son- 
dern Bekenntnis stritt gegen Bekenntnis. In die 
Diskussion über das Dogma, in die Frage, ob 
dem Kultus eines andern Bekenntnisses Raum 
zu lassen sei, mischte sich der Kampf um Vorrechte 
und Vorteile, Privilegien und Besitztitel, und der 
Streit gewann ebendadurch von vornherein eine 
ganz andere Färbung und Intensität. Ferner ist 
in der oben angestellten Untersuchung prinzipiell 
nur von der Stellung des Gemeinwesens, der 
bürgerlichen Autorität, den Außerungen der indi- 
viduellen Freiheit gegenüber die Rede gewesen; 
die Stellung der Kirche wurde dabei höchstens 
im Vorübergehen gestreift. Es ist klar, daß für 
diese letztere noch ganz andere Motive als die hier 
erörterten in Betracht kommen. Ihr Beruf ist die 
Bewahrung und Reinerhaltung des Glaubens-= 
schatzes, sie ist die universale Heils= und Er- 
ziehungsanstalt des Menschengeschlechtes. Zwar 
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