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einem doppelten Mangel. Der eine ist zugleich
der Grundirrtum der gesamten Millschen Philo-
sophie, die Leugnung einer absoluten Wahr-
heit. Alle Wahrheiten gelten hier nur auf Vor-
behalt, und solange sie nicht durch die fortschreitende
Erfahrung berichtigt werden. Aber es gibt Wahr-
heiten, die ein für allemal gültig sind, weil sie
notwendig sind. Zu ihnen gehören nicht nur die
mathematischen, sondern auch die höchsten meta-
physischen und moralischen Wahrheiten. Eben-
darum kann das Verbot ihrer öffentlichen Bestrei-
tung oder der Verbreitung des entgegengesetzten
Irrtums nicht als eine Hinderung des Erkenntnis-
fortschrittes bezeichnet werden. Und dann: wenn
auch von theoretischen Uberzeugungen nicht minder
wie von andern Gütern gelten mag, daß man
vollkommen nur besitzt, was man erworben hat, so
geht doch ohne Zweifel die Meinung viel zu weit,
daß um dessentwillen die öffentliche Bestreitung
überkommener Wahrheiten im weitesten Umfange
gestattet werden müsse. Eine Bestreitung von
Wahrheiten, welche unmittelbar einleuchten und
darum keinen wirklichen Zweifel zulassen, hat
keinen Sinn und wird auch nicht unternommen.
Wohl aber findet sie statt solchen Wahrheiten
gegenüber, welche eines Beweises bedürfen.
Dieselben können ebenso gewiß sein wie jene
andern, aber sie sind es in vollem Maße nur für
den, welcher dem Gange des Beweises zu folgen
vermag und den notwendigen Zusammenhang
seiner einzelnen Glieder eingesehen hat. Ihnen
gegenüber ist daher Bestreitung möglich, und sie
kann insofern erfolgreich sein, als nicht jedermann
die Bedeutung wissenschaftlicher Argumente richtig
zu schätzzun weiß und daher oft genug der auf
scheinbare Argumente gestützte Irrtum an Stelle
der Wahrheit ergriffen wird. Dies geschieht um
so leichter, wenn es sich nicht um rein theoretische
Lehrsätze handelt, sondern um solche, bei denen
alsbald die Interessen und Leidenschaften,
diese schlimmsten aller Sophisten, mit ins Spiel
kommen. Es ist ein gefährlicher Optimismus,
darauf zu vertrauen, daß die Wahrheit sich doch
immer wieder Bahn brechen werde; denn man
weiß nicht, welche Verheerungen der Irrtum in-
zwischen angerichtet haben wird. Ich halte es
daher allerdings für das gute Recht der bürger-
lichen Gesellschaft, diejenigen Wahrheiten, auf
deren Geltung ihr geordneter Bestand beruht, mit
dem Schutze des Gesetzes zu umgeben und die
öffentliche Verbreitung entgegengesetzter Irrtümer,
deren Konsequenzen zu einer Auflösung derselben
führen würden, unter Strafe zu stellen. Der
Umfang dieser Wahrheiten läßt sich allerdings
nicht in einer allgemein gültigen Weise bestimmen.
Wo ein Volk in der überwiegenden Mehrheit seiner
Glieder an einem bestimmten kirchlichen Bekennt-
nisse festhält, wird man eben dieses mit allem, was
es einschließt, dazu rechnen; wo mehrere Bekennt-
nisse nebeneinander bestehen, das, was diesen ge-
meinsam ist, bis zuletzt nur die Wahrheiten der
Staatslexikon. II. 3. Aufl.
Freiheit.
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natürlichen Religion übrigbleiben: Dasein Gottes,
Unsterblichkeit der Seele, dereinstige Vergeltung
des Guten und Bösen.
Die moderne Gesetzgebung hat diesen Stand-
punkt ziemlich allgemein aufgegeben und auch der
Propaganda des krassesten Materialismus und
Atheismus keinerlei Hindernis mehr in den
Weg gelegt. Im besten Falle begnügt man sich
unter Würdigung des zuvor erörterten Gesichts-
punktes, Argernis erregende Gotteslästerung und
die Beschimpfung von Einrichtungen einer an-
erkannten Religionsgesellschaft" strafrechtlich zu re-
primieren. Ob diese Entwicklung eine glückliche
gewesen ist, darüber wird vielleicht eine nahe Zu-
kunft das Urteil sprechen. Hier kam es nur darauf
an, die Behauptung zu begründen, daß die recht-
liche Freiheit des Individuums nicht den Anspruch
einschließt, jede Meinung über religiöse Dinge,
die der einzelne für sich hegen mag, durch Wort
und Schrift öffentlich zu verbreiten, und daß die
bürgerliche Autorität keineswegs unter allen Um-
ständen ihre Befugnis überschreitet, wenn sie es
unternimmt, solcher Verbreitung Schranken zu
utzen.
gr Ergebnis der bisherigen Erörterung ist
festzustellen: Niemand darf zu einem bestimmten
religiösen Bekenntnis oder zu einer bestimmten
religiösen Handlung gezwungen werden; einem
jeden muß es überlassen bleiben, seine Stellung
zu den religiösen Fragen selbst zu bestimmen und
sein religiöses Leben nach eigenem Ermessen zu
gestalten, solange er nicht durch seine Handlungen
die religiösen Gefühle anderer verletzt oder durch
die Verbreitung seiner Ansichten die theoretischen
Grundlagen des bürgerlichen Gemeinwesens unter-
gräbt.
Noch zwei kurze Bemerkungen mögen folgen.
Der Streit um die religiöse Freiheit ist geschicht-
lich zumeist nicht, und jedenfalls nicht zuerst in
der hier versuchten prinzipiellen Zuspitzung des
Problems aufgetreten. Nicht das unveräußerliche
Recht des Individuums und das berechtigte Inter-
esse des Gemeinwesens waren die Gegensätze, son-
dern Bekenntnis stritt gegen Bekenntnis. In die
Diskussion über das Dogma, in die Frage, ob
dem Kultus eines andern Bekenntnisses Raum
zu lassen sei, mischte sich der Kampf um Vorrechte
und Vorteile, Privilegien und Besitztitel, und der
Streit gewann ebendadurch von vornherein eine
ganz andere Färbung und Intensität. Ferner ist
in der oben angestellten Untersuchung prinzipiell
nur von der Stellung des Gemeinwesens, der
bürgerlichen Autorität, den Außerungen der indi-
viduellen Freiheit gegenüber die Rede gewesen;
die Stellung der Kirche wurde dabei höchstens
im Vorübergehen gestreift. Es ist klar, daß für
diese letztere noch ganz andere Motive als die hier
erörterten in Betracht kommen. Ihr Beruf ist die
Bewahrung und Reinerhaltung des Glaubens-=
schatzes, sie ist die universale Heils= und Er-
ziehungsanstalt des Menschengeschlechtes. Zwar
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