Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

323 Freikonservative 
kann und soll auch sie ihre Lehren und Gnaden 
niemand aufzwingen, sie hat zudem lediglich gei- 
stige Mittel zur Verfügung; aber sie muß ihrer 
ganzen Aufgabe nach das gesamte Leben ihrer 
Glieder einer weit umfassenderen Kontrolle unter- 
werfen, sie kann ihre Gnaden und Segnungen 
denen, die sich ihrer unwürdig machen, vorent- 
halten; sie muß das Recht haben, Glieder, die 
sich selbst durch Worte und Handlungen von ihr 
losgesagt haben, auch äußerlich aus ihrem Ver- 
bande auszuscheiden. Letzteres sollten auch die- 
jenigen anerkennen, die selbst außerhalb der Kirche 
und kirchlicher Denkweise stehen. Im übrigen 
wird, was die Stellung der kirchlichen Autorität 
den einzelnen gegenüber betrifft, ein Verständnis 
mit jenen sich schwerlich erreichen lassen, denn das 
Natürliche und das Übernatürliche, Wissen und 
Glauben sind inkommensurable Größen. Sieht 
man indessen hiervon ab, sucht man ein Prinzip, 
das unter Berücksichtigung der gegebenen Verhält- 
nisse den Spielraum festsetzt, welchen die bürger- 
liche Autorität der Freiheit des Individuums auf 
dem religiösen Gebiete zu gewähren, aber auch zu 
wahren hat, so ist es meines Erachtens in dem 
oben aufgestellten gegeben. — (Vgl. die Art. Be- 
kenntnisfreiheit, Berufsfreiheit, Hausrecht, Hörig- 
keit, Sklaverei.) lv. Hertling.] 
Freikonservative s. Parteien, politische. 
Freimaurer s. Gesellschaften, geheime. 
Freistaat s. Republik. 
Freiwillige Gerichtsbarkeit s. Ge- 
richtsbarkeit, freiwillige. 
Freizügigkeit. 1. Gott hat die Erde dem 
ganzen Menschengeschlecht zum Besitz und zum 
Bewohnen gegeben. Es ist nicht jedem einzelnen 
Volk ein bestimmt abgegrenztes Land und noch 
weniger jedem einzelnen Volksteil ein bestimmt 
abgegrenzter Landesteil überwiesen. Die gesamte 
Menschheit hat eine einheitliche Aufgabe, an deren 
Lösung jeder einzelne Mensch sich ebenso betei- 
ligen soll wie jedes einzelne Volk, und zu deren 
Lösung ihr ein gemeinsames Feld übergeben ist, 
die ganze Erde. Diese Aufgabe hat eine über- 
irdische Seite, das Lob des Schöpfers und die 
Vorbereitung auf das jenseitige Leben vor dem 
Angesichte Gottes, und eine irdische Seite, die 
böchste Ausbildung aller körperlichen und geistigen 
Kräfte des einzelnen und der gesellschaftlichen Ein- 
richtungen der Gesamtheit. Wie die geistige Ent- 
wicklung des einzelnen zum Teil abhängt von dem 
ungehinderten Verkehr innerhalb des eigenen Vol- 
kes, so ist auch der Kulturfortschritt eines Volkes 
mitbedingt von dem mehr oder weniger regen 
Verkehr, den es selbst durch seine Angehörigen mit 
andern Völkern pflegt; denn die gesamte Mensch- 
heit ist ein organisches Ganze, und kein Glied 
derselben kann sich seiner vollen Bestimmung nach 
entwickeln, wenn es losgelöst oder abgeschlossen ist 
von dem übrigen Ganzen. 
Aus diesen Grundsätzen ergeben sich die- 
  
— Freizügigkeit. 324 
Volksgenossen untereinander als auch für den Ver- 
kehr der verschiedenen Völker und ihrer Angehörigen, 
welche man in dem Begriff der Freizügigkeit zu- 
sammenfaßt. Sie liegen auf dem Gebiete des 
öffentlichen Rechts, so daß privatrechtliche Ein- 
richtungen, wie Sklavereiund Leibeigenschaft, welche 
die freie Bewegung hindern, nicht zu berücksichtigen 
sind. Das Altertum zog diese Folgerungen zu- 
nächst, wenn auch in beschränktem Maße, indem 
es die Gastfreundschaft als die unentbehrliche Vor- 
bedingung des damaligen Verkehrs zur Höhe einer 
Pflicht erhob, bald nur gegenüber den Volks- 
genossen, bald auch gegenüber den Fremden. Die 
Entwicklung des Altertums schloß ab mit einer 
Art Weltbürgerrecht, indem der civis romanus 
seit der allgemeinen Ausdehnung der Zivität unter 
Caracalla der vollständigsten Freizügigkeit durch 
das ganze römische Reich genoß. Das christliche 
Mittelalter war von jenen Grundsätzen so tief 
durchdrungen, daß gerade durch sie die nationalen 
Gegensätze unter den christlichen Völkern in hohem 
Maße ausgeglichen und die Völker zu großen ge- 
meinsamen Taten begeistert wurden. Erst der Zeit 
nach der Reformation, welche ja in weitem Maße 
eine Einengung des ethischen Gesichtskreises der 
einzelnen wie der Völker im Gefolge hatte, war 
es vorbehalten, diesen einfach menschlichen Grund- 
sätzen schroff widerstreitende Zustände zu schaffen. 
Die Selbstsucht der Großgrundbesitzer fesselte die 
Bauern an die Scholle; die Engherzigkeit der 
Gemeinden schlof sich gegen neu anziehende Volks- 
genossen ängstlich ab, und der Chauvinismus der 
Nationen führte unter diesen vielfach unübersteig- 
liche Schranken auf. 
Innerhalb eines Staates ist die Freizügigkeit 
aus wirtschaftlichen Gründen selten so sehr be- 
schränkt gewesen wie im preußischen Patri- 
monialstaat des 18. Jahrh. Die Erbunter- 
tänigkeit der Landbevölkerung, die Uberspannung 
des Gemeindebürgerrechts und die Monopolisie- 
rung des Gewerbebetriebs in den Städten machten 
einen freien Verkehr fast unmöglich. Ahnliche Zu- 
stände herrschten im ganzen übrigen Deutschland. 
Die Beschränkungen der Freizügigkeit aus reli- 
giösen und konfessionellen Rücksichten dürften wohl 
nirgends größer gewesen sein als im alten Würt- 
temberg. Katholiken und andere der protestan- 
tischen Landesreligion nicht zugetane Christen 
konnten in die Gemeinden des Landes weder als 
Bürger noch als Beisitzer aufgenommen werden 
und durften nur mit besonderer Bewilligung des 
Herzogs im Lande wohnen. Nicht einmal katho- 
lische Dienstboten sollten ins Land gelassen werden 
(ogl. Generalreskript vom 13. Jan. 1739, Kom- 
munordnung vom 1. Juni 1758, Erbvergleich 
vom 2. März 1770). Nicht geringer waren die 
Beschränkungen, denen die Juden unterlagen. 
Schon seit der Zeit des Herzogs Eberhard im 
Bart (Testament desselben vom 26. Dez. 1492) 
bis in die letzten Zeiten des Herzogtums galt es 
jenigen Folgerungen sowohl für den Verkehr der als eines der köstlichsten Landesprivilegien, daß
	        
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