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Bundesstaat sich frei aufzuhalten und niederzu-
lassen sowie bewegliches und unbewegliches Ver-
mögen zu erwerben. Die Bestrebungen nach grö-
WHerer Freizügigkeit gingen dabei regelmäßig Hand
in Hand mit dem Streben nach Ausdehnung der
Gewerbefreiheit.
Die erste Kodifikation der Freizügigkeit fand
gleichfalls in Preußen statt, und zwar durch das
Gesetz vom 31. Dez. 1842 über die Aufnahme
neu anziehender Personen in einem Gemeinde-
oder Gutsbezirk. In 81 desselben wurde bestimmt:
Keinem selbständigen preußischen Untertan darf
an dem Orte, wo er eine eigene Wohnung oder
ein Unterkommen sich selbst zu verschaffen imstande
ist, der Aufenthalt verweigert oder durch lästige
Bedingungen erschwert werden. Beschränkungen
dieses allgemeinen Grundsatzes sind nur zugelassen
auf Grund mangelnder Zuverlässigkeit in morali-
scher und strafrechtlicher Beziehung und auf Grund
mangelnder Sicherheit der Erwerbsfähigkeit. Die
Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März
1849 wollte einen Schritt weitergehen und ein
Reichsbürgerrecht einführen, auf Grund dessen jeder
Reichsangehörige unbedingt und ohne Rücksicht auf
die Sonderbestimmungen der Einzelstaaten das
Recht haben sollte, an jedem Orte des Reichs-
gebietes seinen Aufenthalt und Wohnsitz zu neh-
men, Grundbesitz zu erwerben, Gewerbe zu be-
treiben und das Gemeindebürgerrecht zu gewin-
nen. Die Auswanderung aus einem deutschen
Staat in den andern sollte unbeschränkt sein. Diese
Reichsverfassung trat bekanntlich nicht in Kraft.
Doch blieb der Gedanke lebendig und nahm recht-
liche Gestalt an, sobald das heutige Deutsche Reich
heranzuwachsen begann.
Die Verfassung des Norddeutschen Bundes
vom 16. April 1867 bestimmte im Artikel 3: Für
den ganzen Umfang des Bundesgebietes besteht
ein gemeinsames Indigenat mit der Wirkung, daß
der Angehörige (Untertan, Staatsbürger) eines
jeden Bundesstaates in jedem andern Bundes-
staate als Inländer zu behandeln und demgemäß
zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zu
öffentlichen Amtern, zur Erwerbung von Grund-
stücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts
und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen
Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der
Einheimische zuzulassen, auch in betreff der Rechts-
verfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich
zu behandeln ist. In der Ausübung dieser Be-
fugnis darf der Bundesangehörige weder durch die
Obrigkeit seiner Heimat noch durch die Obrigkeit
eines andern Bundesstaates beschränkt werden.
Das gleiche bestimmte mit einer geringen redaktio-
nellen Anderung des zweiten Satzes der Artikel 3
der Verfassung des Deutschen Reiches vom
16. April 1871. Die nähere Ausführung und
gleichzeitig die notwendige Beschränkung fand die
so durchgeführte Freizügigkeit in dem Bundes-
gesetz betreffend die Freizügigkeit vom 1. Nov.
1867 (abgeändert durch Einf. Ges. zum B.G.B.
Freizügigkeit.
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Art. 37), in der Gewerbeordnung (Not-Gew.=
Ordn. vom 8. Juli 1868 und definitive Gew.=
Ordn. für den Norddeutschen Bund vom 2. Juni
1869), dem Bundesgesetz über das Paßwesen
vom 12. Okt. 1867 und dem Bundesgesetz über
den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870,
welche alle später durch § 1 des Reichsgesetzes
betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches
vom 16. April 1871 zu Reichsgesetzen erklärt
wurden. Das Freizügigkeits= und das Unter-
stützungswohnsitzgesetzenthalten die Beschränkungen
der Freizügigkeit in Bezug auf die Erwerbsfähig-
keit. Die Beschränkungen in Bezug auf die mo-
ralische Zuverlässigkeit finden sich im Strafgesetz-
buch vom 31. Mai 1870 bzw. 15. Mai 1871,
§8 38 ff (Polizeiaufsicht über bestrafte Personen)
und § 361 (Überweisung von Landstreichern, Bett-
lern, Trunkenbolden, Prostituierten usw. an die
Landespolizeibehörde).
Im allgemeinen ist zu dieser so ausgestalteten
Freizügigkeit im Deutschen Reich zu sagen, daß
die Schranken derselben aus sitten= und straf-
polizeilichen Rücksichten bei besonnener Hand-
habung sich als ausreichend bewährt haben, daß
dagegen die armenpolizeilichen Schranken
vielfach als ungenügend angefochten werden. In
der Tat läßt sich nicht verkennen, daß unsere heu-
tige Freizügigkeit für viele, namentlich rasch sich
vergrößernde Fabrikorte eine Vermehrung der
Armenlast, der Schullast und sonstiger gemeind-
licher Lasten im Gefolge gehabt hat, welche drin-
gend der Abhilfe bedarf. Ob aber diese Abhilfe
gefunden werden kann im Wege weiterer Be-
schränkung der Freizügigkeit, ist unfraglich zu ver-
neinen. Angesichts des heutigen Verkehrs, der
weder nationale noch internationale Schranken
kennt, würde jede Beschränkung der Freizügigkeit,
welche den wesentlichen und notwendigen Inhalt
derselben berührt, unmöglich und unzulässig sein.
Die Abstellung der erwähnten Mißstände muß
vielmehr gesucht werden auf dem Gebiete der Ge-
werbeordnung, namentlich der Ordnung der ge-
werblichen Großproduktion.
Neuerdings sind Bestrebungen hervorgetreten,
zur Linderung der Not an ländlichen Arbeitern,
der sog. Leutenot, für auf dem Lande geborene
Arbeiter eine Beschränkung der Freizügigkeit ein-
treten zu lassen, etwa für Arbeiter bis zum voll-
endeten 16. Lebensjahre. Doch läßt sich, ab-
gesehen von der Undurchführbarkeit und der sehr
geringen Abhilfe, nicht erkennen, wie man vom
Standpunkt der Gleichheit aller vor dem Gesetz
im wirtschaftlichen Interesse der Grundbesitzer die
Beschränkung eines für das wirtschaftliche Fort-
kommen der ländlichen Arbeiter so wertvollen
Rechts wie die Freizügigkeit rechtfertigen könnte.
Die im Westen und Süden Deutschlands nicht
minder als im Osten herrschende Landarbeiternot
ist weniger die unmittelbare Folge der Freizügig-
keit als der bestehenden Agrar= und Landarbeiter-
verhältnisse. Deshalb kann Abhilfe nur u. a. von