Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Beide Gesetze ließen die untere Altersgrenze fallen, 
schoben anderseits die obere Altersgrenze bis zu 
16 Jahren hinauf. 
Das Bürgerliche Gesetzbuch hat die 
große Tragweite des hier einschlägigen Rechts- 
stoffes bei den Beratungen vollauf gewürdigt. 
Ihn wegen der Lückenhaftigkeit der Mehrzahl der 
landesrechtlichen Gesetzesvorschriften im B.G.B. 
erschöpfend zu behandeln, wurde gleichwohl unter- 
lassen. Gegenüber dem Bestreben, in dem Rahmen 
der privatrechtlichen Interessen zu verbleiben, 
wurde beschlossen, jedes Hinübergreisen in das 
öffentliche Recht zu vermeiden. Der 8 1546 der 
ersten Lesung erhielt die Fassung des heutigen 
§ 1666 des B.G. B.: 
„Wird das geistige oder leibliche Wohl des 
Kindes dadurch gefährdet, daß der Vater das Recht 
der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, 
das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen 
oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat 
das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung 
der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. 
Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere an- 
ordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung 
in einer geeigneten Familie oder in einer Er- 
ziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt unter- 
gebracht wird. Hat der Vater das Recht des 
Kindes auf Gewährung des Unterhalts verletzt, 
und ist für die Zukunft eine erhebliche Gefähr- 
dung des Unterhalts zu besorgen, so kann dem 
Vater auch die Vermögensverwaltung sowie die 
Nutznießung entzogen werden.“ Ein gleiches gilt 
auch von der elterlichen Gewalt der Mutter (8 1686 
B.G. B.), in noch weiterem Umfange bezüglich der 
unter Vormundschaft stehenden Minderjährigen 
(6 1838 B.G.B.). 
Strafrechtlich kommt, abgesehen von dem 
schon erwähnten § 55 des St.G.B., auch noch 
§5 56 desselben in Betracht. Derselbe bestimmt: 
„Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als 
er das 12., aber nicht das 18. Lebensjahr voll- 
endet hatte, eine strafbare Handlung begangen 
hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung der- 
selben die zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit er- 
forderliche Einsicht nicht besaß. In dem Urteil 
ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner 
Familie überwiesen oder in eine Erziehungs= oder 
Besserungsanstalt gebracht werden soll. In der 
Anstalt ist er so lange zu behalten, als die der 
Anstalt vorgesetzte Verwaltungsbehörde solches für 
erforderlich erachtet, jedoch nicht über das voll- 
endete 20. Lebensjahr."“ 
Für die hier vorgesehenen Fälle ist zu landes- 
rechtlichen Vorschriften kein Raum gelassen. Da- 
hingegen finden die angeführten Bestimmungen 
des B.G. B. und die Vorschrift des § 55 des 
St.G.B. die gewünschte Ergänzung durch den 
Art. 35 des Einf.Ges. zum B.G. B., der besagt: 
Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften 
über die Zwangserziehung Minderjähriger. Die 
Zwangserziehung ist jedoch, unbeschadet der Vor- 
  
Fürsorgeerziehung. 
  
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schriften der §8 55, 56 des St. G. B. nur zu- 
lässig, wenn sie von dem Vormundschafsgericht 
angeordnet wird. Die Anordnung kann außer 
den Fällen der §§ 1666, 1838 des B. G. B. nur 
erfolgen, wenn die Zwangserziehung zur Ver- 
hütung des völligen sittlichen Verderbens not- 
wendig ist. Die Landesgesetze können die Ent- 
scheidung darüber, ob der Minderjährige, dessen 
Zwangserziehung angeordnet ist, in einer Familie 
oder in einer Erziehungs= oder Besserungsanstalt 
unterzubringen sei, einer Verwaltungsbehörde über- 
tragen, wenn die Unterbringung auf öffentliche 
Kosten zu erfolgen hat. Art. 3 des Einf.Ges. er- 
mächtigt auch zum Erlaß neuer landesgesetzlicher 
Vorschriften. 
Im Anschluß hieran hat eine Reihe deutscher 
Bundesstaaten entsprechende Gesetze erlassen (ab- 
gedruckt in Schmitz, Fürsorgeerziehung Minder- 
jähriger, 1908): Anhalt das Gesetz vom 
21. März 1899; Mecklenburg-Schwerin die Ver- 
ordnung vom 9. April 1899; Mecklenburg-Stre- 
litz die Verordnung vom selben Datum; Braun- 
schweig das Gesetz vom 12. Juni 1899; Schaum- 
burg-Lippe das Gesetz vom 30. Juni 1899; Bre- 
men das Gesetz vom 18. Juli 1899; Schwarz- 
burg-Sondershausen das Gesetz vom 29. Juli 
1899; Sachsen-Meiningen das Gesetz vom 
19. Aug. 1899; Württemberg das Gesetz be- 
treffend die Fürsorgeerziehung Minderjähriger 
vom 29. Dez. 1899; Preußen das Gesetz be- 
treffend die Fürsorgeerziehung Minderjähriger 
vom 2. Juli 1900; Waldeck das Gesetz über die 
Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 22. Jan. 
1902; Bayern das Gesetz betreffend die Zwangs- 
erziehung vom 10. Mai 1902; Hamburg das 
Gesetz über die Zwangserziehung Minderjähriger 
vom 11. Sept. 1907. In den andern deutschen 
Bundesstaaten sind die bestehenden Gesetze in 
Geltung geblieben, jedoch sind dieselben in der 
Mehrzahl jener Staaten durch Ausführungs- 
gesetze mit den reichsrechtlichen Vorschriften in 
Übereinstimmung gebracht worden. Dement- 
sprechend hat erlassen: Königreich Sachsen das 
Ausf.Ges. zum B.G.B. vom 18. Juni 1898 
§ 50; Elsaß-Lothringen das Ausf.Ges. zum 
B.G. B. vom 17. April 1899 §8§ 123/127; 
Sachsen-Weimar-Eisenach das Ausf.Ges. zum 
B. G.B. vom 5. April 1899 88§ 200/210; 
Sachsen-Altenburg das Ausf. Ges. zum B.G.B. 
vom 4. Mai 1899 8§ 109/121; Oldenburg 
das Ausf. Ges. zum B.G.-B. vom 15. Mai 1899 
§§ 27/34; Hessen das Gesetz betreffend die Ausf.= 
Gesetze des B.G.B. vom 17. Juli 1899; Reuß . L. 
das Ausf. Ges. zum B.G.B. vom 10. Aug. 1899 
§§ 100/111; Reuß ä. L. das Gesetz vom 26. Okt. 
1899 betreffend das Ausf.Ges. zum B. G. B. 
§8 125/135; Lübeck das Ausf.Ges. vom 30. Okt. 
1899 §§ 130/141; Baden das Gesetz vom 
16. Aug. 1900. Das Unzulängliche der Vor- 
schrift hat die Königl. Sächsische Regierung zur 
Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage veranlaßt,
	        
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