Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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sondern auch unter dem französischen Klerus und 
namentlich in der Sorbonne. 
Günstige Gelegenheit, den gesamten hohen Kle- 
rus für dieselben zu gewinnen, bot sich durch den 
sog. Regalienstreit. Kraft des Regalien- 
rechts bezog der König seit dem 12. Jahrh. wäh- 
rend der Vakatur der Bistümer deren Einkünfte 
und vergab die Benefizien bischöflicher Kollation. 
mit Ausnahme der Pfarreien. Dieses Regalien- 
recht war auch für Frankreich im Konkordate 
von 1516 anerkannt worden, aber nur für die 
alten Provinzen; nun beanspruchte Ludwig XIV. 
im Jahre 1673 das Regalienrecht als Kronrecht 
durch königliches Dekret auch für die neuen Pro- 
vinzen. Der gesamte Klerus fügte sich demselben, 
ausgenommen zwei jansenistisch gesinnte Bischöfe, 
Pavillon von Alet und Caulet von Pamiers. Ihr 
Widerstand hatte einen gewaltigen Kampf zur 
Folge, da Papst Innozenz XlI. für die Ver- 
solgten eintrat. Die Maßnahmen, die der päpst- 
liche Stuhl ergriffen hatte, erschienen dem fran- 
zösischen König und der Regierung als Eingriff 
in die Freiheiten der gallikanischen Kirche und als 
Verletzung der Art. 7 und 8 des Konkordates vom 
Jahre 1516. Ein Teil auch des Klerus hielt da- 
her Abwehr oder eine Erklärung über die Grenzen 
der päpstlichen Gewalt für angezeigt, und mit 
allem Nachdruck war der König für den Plan, da 
er sich durch die Haltung der Kurie im Regalien- 
streit verletzt fühlte. Eine Generalversammlung 
des Klerus, welche vom 1. Okt. 1681 bis 1. Juli 
1682 in Paris tagte, sprach nicht nur die An- 
erkennung des Regalienrechts in der gewünschten 
Ausdehnung aus, sondern legte auch die galli- 
kanische Doktrin in vier von Bossuet ver- 
saßten Artikeln mit dem Inhalte fest: 1) Dem 
hl. Petrus und seinen Nachfolgern, den Statt- 
haltern Christi, und der Kirche selbst ist von Gott 
übergeben die Gewalt über geistliche und auf das 
ewige Heil bezügliche Dinge, nicht aber über die 
bürgerlichen und zeitlichen. In zeitlichen Dingen 
hatdie Kirche keine Gewalt über Fürsten und Könige 
und kann deren Untertanen nicht vom Eid der 
Treue lösen. Der Staat ist von der Kirche völlig 
uUnabhängig. 2) Der Papst steht unter einem all- 
gemeinen Konzil nach den Konstanzer Dekreten. 
3) Die päpstliche Gewalt ist beschränkt durch die 
Kanones, welche die ganze Kirche angenommen 
hat, und durch die Gewohnheiten der französischen 
Kirche (regulae, mores et instituta a regno et 
ecclesia Gallicana recepta). 4) Der Papst hat 
in Glaubenssachen zwar den vorzüglichsten An- 
teil; doch ist sein Urteil ohne den Konsens der 
Kirche nicht irreformabel (Coll. Lac. 1 792 ffj. 
Die Artikel, von 8 Erzbischöfen, 26 Bischöfen, 
37 Gelehrten, Agenten usw. unterzeichnet, fanden 
sofort königliche Bestätigung (22. März 1682), 
während Papst Innozenz durch Breve vom 
11. April 1682 und Alexander VIII. am 4. Aug. 
1690 die Deklaration für null und nichtig er- 
klärten, sie aber nicht zensurierten, um kein förm- 
Gallikanismus. 
  
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liches Schisma zu verursachen. Außerdem verwei- 
gerte er den zu Bischöfen ernannten Teilnehmern 
an der Generalversammlung die Bestätigung, so 
daß binnen 6 Jahren 35 Bistümer unbesetzt 
waren. Die Lage wurde noch verschärft durch 
den Streit über die sog. Quartierfreiheit. Lud- 
wig XIV. brach allen Verkehr mit Rom ab, ließ 
den päpstlichen Nuntius gefangennehmen und die 
päpstlichen Besitzungen Avignon und Venaissin 
besetzen. Als die Verhältnisse bis zum Schisma ge- 
diehen waren, trat 1689 ein Pontifikatswechsel ein, 
welchen der König zum Einlenken benutzte. Aber 
erst dem zweitnächsten Nachfolger, dem Papste In- 
nozenz XII., erklärte Ludwig XIV. in Form eines 
Entschuldigungsschreibens am 14. Sept. 1693, 
auf die Ausführung der Deklaration verzichten zu 
wollen. Die Einregistrierung selbst aber wurde 
nicht rückgängig gemacht. Vielmehr zog das Par- 
lament nach dem Tode des Königs (1715) das 
Gesetz wieder hervor und gebot die gallikanische 
Lehre mit Ausschluß jeder entgegengesetzten. Im 
stillen blieb die Deklaration bis zur Revolution 
bestehen. Noch einmal erstarkten die gallikanischen 
Ideen unter der Herrschaft Napoleons I., als er 
die Deklaration als Staatsgesetz in den dem Kon- 
kordat von 1801 eigenmächtig angehängten „Or- 
ganischen Artikeln“ verkünden ließ mit dem Be- 
sehle, die gallikanischen Sätze in allen Semi- 
narien zu lehren. Mit seinem Falle wurden die 
Vertreter des Gallikanismus immer seltener und 
fanden sich hauptsächlich nur noch unter den Ju- 
risten und Staatsmännern. Seine letzte Verurtei- 
lung fand der Gallikanismus auf dem Vatikanischen 
Konzil (1870), wo Weihbischof Maret von Paris 
und Bischof Dupanloup von Orléans noch als 
Hauptvorkämpfer desselben auftraten. In seinen 
verderblichen Nachwirkungen zeigt sich besonders 
der erste gallikanische Artikel bis auf die Gegen- 
wart. Denn die darin niedergelegte Anschauung 
hatte nicht zuletzt auch die Folge, daß sich der fran- 
zösische Klerus von den zeitlichen, d. h. wirtschaft- 
lich-sozialen und politischen Angelegenheiten des 
Volkes völlig fernhielt und dadurch seinen Einfluß 
im öffentlichen Leben zum großen Teil einbüßte. 
Auch außerhalb Frankreichs hatten die galli- 
kanischen Grundsätze Vertretung gewonnen. Die 
Diözesansynode von Pistoia (1786) hatte die vier 
Gallikanischen Artikel in ihr Glaubensbekenntnis 
aufgenommen, und der Febronianismus (s. d. Art.) 
sowie die Reformbestrebungen des Kaisers Jo- 
seph II. ruhten in letzter Linie auf gallikanischen 
Anschauungen. 
Literatur. Für die ältere Zeit vgl. Schulte, 
Gesch. d. Quellen u. Literatur d. kanon. Rechts III, 
2. 3, 277; ferner Ch. Gerin, Recherches hist. sur 
T’assemblée du clergé de France de 1682 (Par. 
2180); Cauchie, Le Gallicanisme en Sorbonne 
Löwen 1903); At, Histoire du droit gallicane 
(Par. 1904). Gegen den G. hat sich im 19. Jahrh. 
hauptsächlich Graf de Maistre gewandt in seinen 
zwei Werken Du Pape (Lyon 1819) u. De ’Eglise 
Gallicane (Par. 1821). P. A. Kirsch.) 
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