387
sondern auch unter dem französischen Klerus und
namentlich in der Sorbonne.
Günstige Gelegenheit, den gesamten hohen Kle-
rus für dieselben zu gewinnen, bot sich durch den
sog. Regalienstreit. Kraft des Regalien-
rechts bezog der König seit dem 12. Jahrh. wäh-
rend der Vakatur der Bistümer deren Einkünfte
und vergab die Benefizien bischöflicher Kollation.
mit Ausnahme der Pfarreien. Dieses Regalien-
recht war auch für Frankreich im Konkordate
von 1516 anerkannt worden, aber nur für die
alten Provinzen; nun beanspruchte Ludwig XIV.
im Jahre 1673 das Regalienrecht als Kronrecht
durch königliches Dekret auch für die neuen Pro-
vinzen. Der gesamte Klerus fügte sich demselben,
ausgenommen zwei jansenistisch gesinnte Bischöfe,
Pavillon von Alet und Caulet von Pamiers. Ihr
Widerstand hatte einen gewaltigen Kampf zur
Folge, da Papst Innozenz XlI. für die Ver-
solgten eintrat. Die Maßnahmen, die der päpst-
liche Stuhl ergriffen hatte, erschienen dem fran-
zösischen König und der Regierung als Eingriff
in die Freiheiten der gallikanischen Kirche und als
Verletzung der Art. 7 und 8 des Konkordates vom
Jahre 1516. Ein Teil auch des Klerus hielt da-
her Abwehr oder eine Erklärung über die Grenzen
der päpstlichen Gewalt für angezeigt, und mit
allem Nachdruck war der König für den Plan, da
er sich durch die Haltung der Kurie im Regalien-
streit verletzt fühlte. Eine Generalversammlung
des Klerus, welche vom 1. Okt. 1681 bis 1. Juli
1682 in Paris tagte, sprach nicht nur die An-
erkennung des Regalienrechts in der gewünschten
Ausdehnung aus, sondern legte auch die galli-
kanische Doktrin in vier von Bossuet ver-
saßten Artikeln mit dem Inhalte fest: 1) Dem
hl. Petrus und seinen Nachfolgern, den Statt-
haltern Christi, und der Kirche selbst ist von Gott
übergeben die Gewalt über geistliche und auf das
ewige Heil bezügliche Dinge, nicht aber über die
bürgerlichen und zeitlichen. In zeitlichen Dingen
hatdie Kirche keine Gewalt über Fürsten und Könige
und kann deren Untertanen nicht vom Eid der
Treue lösen. Der Staat ist von der Kirche völlig
uUnabhängig. 2) Der Papst steht unter einem all-
gemeinen Konzil nach den Konstanzer Dekreten.
3) Die päpstliche Gewalt ist beschränkt durch die
Kanones, welche die ganze Kirche angenommen
hat, und durch die Gewohnheiten der französischen
Kirche (regulae, mores et instituta a regno et
ecclesia Gallicana recepta). 4) Der Papst hat
in Glaubenssachen zwar den vorzüglichsten An-
teil; doch ist sein Urteil ohne den Konsens der
Kirche nicht irreformabel (Coll. Lac. 1 792 ffj.
Die Artikel, von 8 Erzbischöfen, 26 Bischöfen,
37 Gelehrten, Agenten usw. unterzeichnet, fanden
sofort königliche Bestätigung (22. März 1682),
während Papst Innozenz durch Breve vom
11. April 1682 und Alexander VIII. am 4. Aug.
1690 die Deklaration für null und nichtig er-
klärten, sie aber nicht zensurierten, um kein förm-
Gallikanismus.
388
liches Schisma zu verursachen. Außerdem verwei-
gerte er den zu Bischöfen ernannten Teilnehmern
an der Generalversammlung die Bestätigung, so
daß binnen 6 Jahren 35 Bistümer unbesetzt
waren. Die Lage wurde noch verschärft durch
den Streit über die sog. Quartierfreiheit. Lud-
wig XIV. brach allen Verkehr mit Rom ab, ließ
den päpstlichen Nuntius gefangennehmen und die
päpstlichen Besitzungen Avignon und Venaissin
besetzen. Als die Verhältnisse bis zum Schisma ge-
diehen waren, trat 1689 ein Pontifikatswechsel ein,
welchen der König zum Einlenken benutzte. Aber
erst dem zweitnächsten Nachfolger, dem Papste In-
nozenz XII., erklärte Ludwig XIV. in Form eines
Entschuldigungsschreibens am 14. Sept. 1693,
auf die Ausführung der Deklaration verzichten zu
wollen. Die Einregistrierung selbst aber wurde
nicht rückgängig gemacht. Vielmehr zog das Par-
lament nach dem Tode des Königs (1715) das
Gesetz wieder hervor und gebot die gallikanische
Lehre mit Ausschluß jeder entgegengesetzten. Im
stillen blieb die Deklaration bis zur Revolution
bestehen. Noch einmal erstarkten die gallikanischen
Ideen unter der Herrschaft Napoleons I., als er
die Deklaration als Staatsgesetz in den dem Kon-
kordat von 1801 eigenmächtig angehängten „Or-
ganischen Artikeln“ verkünden ließ mit dem Be-
sehle, die gallikanischen Sätze in allen Semi-
narien zu lehren. Mit seinem Falle wurden die
Vertreter des Gallikanismus immer seltener und
fanden sich hauptsächlich nur noch unter den Ju-
risten und Staatsmännern. Seine letzte Verurtei-
lung fand der Gallikanismus auf dem Vatikanischen
Konzil (1870), wo Weihbischof Maret von Paris
und Bischof Dupanloup von Orléans noch als
Hauptvorkämpfer desselben auftraten. In seinen
verderblichen Nachwirkungen zeigt sich besonders
der erste gallikanische Artikel bis auf die Gegen-
wart. Denn die darin niedergelegte Anschauung
hatte nicht zuletzt auch die Folge, daß sich der fran-
zösische Klerus von den zeitlichen, d. h. wirtschaft-
lich-sozialen und politischen Angelegenheiten des
Volkes völlig fernhielt und dadurch seinen Einfluß
im öffentlichen Leben zum großen Teil einbüßte.
Auch außerhalb Frankreichs hatten die galli-
kanischen Grundsätze Vertretung gewonnen. Die
Diözesansynode von Pistoia (1786) hatte die vier
Gallikanischen Artikel in ihr Glaubensbekenntnis
aufgenommen, und der Febronianismus (s. d. Art.)
sowie die Reformbestrebungen des Kaisers Jo-
seph II. ruhten in letzter Linie auf gallikanischen
Anschauungen.
Literatur. Für die ältere Zeit vgl. Schulte,
Gesch. d. Quellen u. Literatur d. kanon. Rechts III,
2. 3, 277; ferner Ch. Gerin, Recherches hist. sur
T’assemblée du clergé de France de 1682 (Par.
2180); Cauchie, Le Gallicanisme en Sorbonne
Löwen 1903); At, Histoire du droit gallicane
(Par. 1904). Gegen den G. hat sich im 19. Jahrh.
hauptsächlich Graf de Maistre gewandt in seinen
zwei Werken Du Pape (Lyon 1819) u. De ’Eglise
Gallicane (Par. 1821). P. A. Kirsch.)
—