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Beschlüsse des Bundesrates; von dem Erfordernis
der Gegenzeichnung sind alle Akte der Kommando-
gewalt (die sog. Armeebefehle) ausgenommen.
Ebenso wie der Minister der Einzelstaaten nicht
nur für die Verfassungs= und Gesetzmäßigkeit der
Regierungsakte seines Monarchen, sondern auch
für deren Zweckmäßigkeit und politische Rätlich-
keit haftet, so ist auch der Reichskanzler für diese
kaiserlichen Regierungshandlungen verantwortlich.
Verantwortlich ist er dem Kaiser, dem Bundesrat
und dem Reichstag. Der Reichskanzler kann nur
durch die Ablehnung der Gegenzeichnung und
Forderung der Entlassung seine Verantwortlich-
keit gegenüber kaiserlichen Willensäußerungen, mit
denen er nicht einverstanden ist, geltend machen.
Und dieses Recht, jederzeit die Entlassung fordern
zu können, ist im § 35 des Reichsbeamtengesetzes
normiert. „Dieses Recht bietet denn auch, pflicht-
gemäß ausgeübt, die stärkste Garantie gegen eine
unzweckmäßige, rein persönliche kaiserliche Politik.
Der Kaiser kann ohne Reichskanzler nicht regieren.
Findet er keinen Kanzler, der die Verantwortlich-
keit für seine persönliche Politik übernimmt, dann
muß er sie derart ändern, daß sie sich in konstitu-
tionellen Formen vollzieht.“ (G. Jellinek, Ein
Gesetzentwurf betreffend die Verantwortlichkeit
des Reichskanzlers und seiner Stellvertreter nebst
Begründung, 1909.) Zwar kennt das Reichs-
staatsrecht die sog. Ministeranklage nicht; aber
der Kanzler ist verpflichtet, seine Politik und die
des Kaisers vor Bundesrat und Reichstag zu ver-
treten, auf Anfragen der Regierungen im Bun-
desrat und auf Interpellationen im Reichstag zu
antworten. Der Reichstag kann dann seine von
der des Kanzlers etwa abweichende Ansicht in
Form einer Resolution oder Adresse oder durch
Verweigerung der „Entlastung“ (Reichsverfassung
Art. 72) dokumentieren.
Anläßlich der bekannten Publikation der eng-
lischen Zeitung Daily Telegraph Ende Okt. 1908
über ein Interview des Deutschen Kaisers fand am
10. und 11. Nov. eine ausgiebige Debatte im
Reichstage statt über „persönliches Regiment“, die
Reichsverfassung und insbesondere über die Ver-
antwortlichkeit des Reichskanzlers. Die Vertreter
aller Parteien betonten mehr oder minder scharf
die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit des Kanz-
lers. Das Zentrum stellte sich auf den Boden des
§ 17 der Verfassung und betonte, daß danach aus-
schließlich der Reichskanzler dem Reichstag für die
Politik des Kaisers verantwortlich sei. Das deut-
sche Volk müsse verlangen, daß der Reichskanzler
den Willen und die Kraft besitze, dem Kaiser gegen-
über denjenigen Einfluß zur Geltung zu bringen,
ohne welchen seine staatsrechtliche Verantwortlich-
keit jede Bedeutung verliere. Aus der Fülle der
Anträge, die im Reichstag gestellt wurden, seien der
Antrag des Zentrums und der Antrag Ablaß er-
wähnt. Die Anträge verlangen zum Teil eine Er-
weiterung oder Ergänzung der Verfassung, ins-
besondere den Ausbau des § 17, in der Richtung
Garantien, staatsrechtliche.
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eines besondern Ministerverantwortlichkeitsgesetzes.
Ergänzend soll hinzutreten eine Reform der Ge-
schäftsordnung des Reichstages, insbesondere soll
das Interpellationsrecht des Reichstages dem
Reichskanzler gegenüber ausgebaut werden. Zu
diesen Fragen hat der Staatsrechtslehrer G. Jel-
linek den oben erwähnten „Gesetzentwurf“ ver-
öffentlicht; er lautet:
„§ 1. Die im Art. 17 der Reichsverfassung grund-
sätzlich festgestellte Verantwortlichkeit des Reichs-
kanzlers besteht gegenüber dem Bundesrat und dem
Reichstage. § 2. Der Reichskanzler ist dafür ver-
antwortlich, daß er das ihm übertragene Amt der
Verfassung und den Gesetzen entsprechend gewissen-
haft wahrnehme und sich des Vertrauens, das sein
Amt erfordert, würdig zeige. § 3. Der Reichstag
kann auf Antrag von 100 Mitgliedern mit einer
Mehrheit von zwei Dritteln seiner gesetzlichen Mit-
gliederzahl beschließen, daß der Reichskanzler durch
seine Amtsführung dieses Vertrauen verwirkt hat.
Dem Beschlusse sind die Tatsachen beizufügen, auf
die er sich gründet. Solange über einen solchen An-
trag kein Beschluß gefaßt wurde, bleibt der Reichs-
tag versammelt. § 4. Der Bundesrat kann binnen
einer Woche mit Stimmeneinhelligkeit den Beschluß
des Reichstages aufheben, indem er zugleich den
Reichstag auflöst. § 5. Der Beschluß des Reichs-
tages hat das endgültige Ausscheiden des Reichs-
kanzlers aus dem Reichsdienst zur gesetzlichen Folge.
86. Vorstehende Bestimmungen gelten auch für die
Stellvertreter des Reichskanzlers im Bereiche ihrer
verantwortlichen Stellvertretung. § 7. Wird der im
§ 3 erwähnte Antrag gestellt, so beschließt der
Reichstag zunächst binnen drei Tagen, ob in seine
Beratung einzutreten sei. Im übrigen gelten für
die weitere Behandlung die Vorschriften der Ge-
schäftsordnung."“
Jellinek vertritt auch die Ansicht des Zentrums,
daß eine Anderung des Art. 17 der Verfassung
nicht notwendig sei; „ein einfaches Gesetz, welches
sich als Ausf.Ges. des Art. 17 ankündigt, würde
allen verfassungsmäßigen Forderungen Genüge
tun". Jellinek wendet sich in der Begründung
seines „Gesetzentwurfes“ gegen den Antrag Ab-
laß, der zu den 78 Artikeln der Reichsverfassung
dem Art. 17 noch 16 Zusatzartikel einkleben wolle.
(Antrag Ablaß und Genossen, Drucksachen des
Reichstags, 12. Legislaturperiode, I. Session
1907/09, Nr 1063.) Jellineks Entwurf regelt
freilich nur die politische Seite der Reichskanzler-
verantwortlichkeit, die kriminelle und zivilrechtliche
Seite läßt er außer Betracht und umgeht auch die
Errichtung des Staatsgerichtshofes, da es „außer-
ordentlich schwer ist, den Begriffen der Verfas-
sungs= und Gesetzverletzung oder gar der schweren
Gefährdung der Sicherheit oder Wohlfahrt des
Staates, wie in der badischen Verfassung, einen
juristisch meßbaren Inhalt zu geben“. Er weist
darauf hin, daß viele Staaten, wie Preußen,
Portugal, Belgien, Italien, Dänemark, Oster-
reich-Ungarn, Spanien und Frankreich, bis heute
noch keine Ausführungsgesetze für die staatsgericht-
liche Ministerverantwortlichkeit besitzen. In Frank-
reich liegt die Garantie für diese Verantwortlich-