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keit in dem Zwang zur Demissionierung der
Minister durch Tadelsvotum, Verweigerung oder
Kürzung einer Budgetposition, Annahme einer
vom Ministerium abgelehnten Tagesordnung.
Jellinek (a. a. O.) ist der Ansicht, daß die Reichs-
verfassung bei uns vor Verfassungsbruch durch
den 8 81, Nr 2 des Str.G.B. geschützt sei, da
nach der Meinung hervorragender Strafrechts-
lehrer jede gesetzwidrig verfügte Anderung der
Reichsverfassung unter den Begriff der gewalt-
samen Anderung zu subsumieren sei.
Für die Regierungshandlungen des Kaisers als
Trägers der Staatsgewalt im Reichsland Elsaß-
Lothringen ist der dortige Statthalter, der vom
Kaiser unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers
ernannt und abberufen wird, verantwortlich. Da
der Kaiser landesherrliche Befugnisse einem Statt-
halter übertragen kann (§ 1 des Gesetzes vom
4. Juli 1879) und somit dieser als Stellvertreter
des Kaisers regiert, so bedarf er hierfür der mini-
steriellen Mitwirkung und Gegenzeichnung des
Staatssekretärs, welcher an der Spitze des Mini-
steriums für Elsaß-Lothringen steht.
Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers deckt
auch alle ihm untergeordneten Reichsbehörden in
ihrer Tätigkeit, weshalb ihm auch das Recht ein-
geräumt ist, die Tätigkeit dieser durch seine Direk-
tiven zu bestimmen. Kraft des Prinzips der Un-
abhängigkeit des Richteramtes liegt dem Reichs-
kanzler keinerlei Pflicht der Verantwortung für
die Rechtsprechung der Reichsgerichte ob; er haftet
lediglich dafür, daß die gesetzlich geordneten Ge-
richte überhaupt bestehen, und daß ihnen die Mög-
lichkeit des Funktionierens geboten ist. Ebenso ist
der Reichsrechnungshof vom Reichskanzler unab-
hängig. Der Reichskanzler ist also „das verant-
wortliche Gesamtstaatsministerium des Reiches“
und alle Tätigkeit der Reichsbehörden staatsrecht-
lich Tätigkeit des Reichskanzlers.
Die Verweigerung der Rechenschaft seitens des
Reichskanzlers gegenüber dem Bundesrat oder
Reichstag ist aber mit keinem Rechtsnachteil be-
droht, und die Ablage der Rechenschaft kann nicht
erzwungen werden. Anders gestaltet sich dagegen
die Sache in den meisten deutschen Gliedstaaten,
die das Institut der Ministeranklage ausgebildet
haben. So Bayern durch das Gesetz vom 4. Juni
1849, Württemberg durch die Verfassungsurkunde
§§ 195 ff. Sachsen durch die Verf.-Urk. 88 141 ff.
Baden durch die Verf.-Urk. § 67 und Gesetz vom
20. Febr. 1868, Hessen durch Gesetz vom 5. Juli
1821. Da dieses Recht des Landtages, unter ge-
wissen Voraussetzungen die Minister — als einzelne
oder in ihrer Gesamtheit (Staatsministerium) —
vor einem besondern Staatsgerichtshof anzuklagen,
dem Schutze der Rechte des Landtages und dem
Schutze der Verfassung dient, so sind natürlich
auch die Grenzen dieses Anklagerechts enger ge-
zogen als die Grenzen der ministeriellen Selbstän-
digkeit bei der Mitwirkung zu den Regierungs-
handlungen des Monarchen. Angeklagt werden
Garantien, staatsrechtliche.
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kann der Minister nur wegen Verletzung der Ver-
fassung oder der Staatsgesetze, nicht wegen son-
stiger Verletzung seiner Amtspflicht; wegen dieser
letzteren würden auch auf die Minister die allge-
meinen Bestimmungen über das Disziplinarver-
fahren Anwendung finden. In Baden ist nach der
Verfassungsurkunde § 67° die Ministeranklage
auch zulässig wegen „schwerer Gefährdung der
Sicherheit oder Wohlfahrt des Staates“. Die
Verfolgung von Verbrechen oder Vergehen, welche
dem R. St.G.B. unterliegen, ist nicht Sache
dieser Anklage. Das Anklagerecht steht dem Land-
tag zu, partikularrechtlich verschieden gestaltet: in
den Staaten mit Zweikammersystem entweder
beiden Kammern zusammen mit dem Erfordernis
eines übereinstimmenden Beschlusses (Bayern,
Sachsen, Hessen) oder jeder Kammer für sich
(Preußen und Württemberg) oder wie in Baden
der Zweiten Kammer allein.
Als Staatsgerichtshof fungiert in Preußen (Ver-
fassungsurkunde Art. 61) der „oberste Gerichtshof
in vereinigten Senaten“, in Bayern ein Ausschuß
des obersten Landesgerichtes und zwölf Geschwo-
renen, in Hessen das Oberlandesgericht, in Würt-
temberg und Sachsen ein besonderer, ad hoc zu
konstituierender, je zur Hälfte von der Regierung
und vom Landtag zu besetzender Staatsgerichts-
hof, in Baden die Erste Kammer in Verbindung
mit dem Präsidenten des obersten Gerichtshofes
und acht weiteren Richtern, welche aus den übrigen
Mitgliedern des obersten Gerichtshofes, den Prä-
sidenten und Direktoren der Landgerichte ausgelost
werden (Gesetz vom 11. Dez. 1869, das Verfahren
bei Ministeranklagen betreffend). Die Anklage muß
die Tatsachen, auf welche sie gegründet wird, und
die dafür erforderlichen Beweise, die Bezeichnung
der dem Angeklagten zur Last gelegten Verschul-
dung und die Anträge enthalten. Das Urteil lautet
bei Bejahung der Schuldfrage höchstenfalls auf
Entfernung aus Amt und Staatedienst. Ein
Rechtsmittel gegen das Urteil findet nicht statt,
auch steht bezüglich dieser Strafen dem Monarchen
kein Begnadigungsrecht zu. Die Rehabilitierung
des Verurteilten kann nur mit Zustimmung des
Landtages erfolgen.
VII. Bekagerungszustand. Als ultima ratio
gegen Aufruhr der Bevölkerung gewährt der Be-
lagerungszustand eine gewisse Garantie der
verfassungsmäßigen Institutionen. Nach Art. 68
der Reichsverfassung besitzt nur das Reich das
Recht der Verkündigung des Belagerungszustandes,
ausgeübt durch den Kaiser zeit= und distriktsweise
(die preußische Verfassungsurkunde kannte eine
solchein bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Fällen
auch durch das Gesamtstaatsministerium). Vgl. das
Gesetz vom 4. Juni 1851 über den Belagerungs-
zustand § 16. Seit Gründung des Reiches steht
dieses Recht ausschließlich dem Kaiser zu. Nur die
aus § 16 des genannten Gesetzes sich ergebenden
Befugnisse, der sog. kleine Belagerungszustand,
sind dem Staatsministerium verblieben. Zorn