Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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(Staatsrecht des Deutschen Reiches I 198) be- 
zeichnet die Verhängung des Belagerungszustandes 
als Ausfluß des kaiserlichen Oberbefehls, woraus 
sich ergibt, daß den Einzelstaaten jede Kompetenz 
in dieser Hinsicht entzogen ist. Ausgenommen ist 
jedoch bis zum Erlaß des vorbehaltenen Gesetzes 
Bayern. Der Belagerungszustand schafft materiell 
eine vollständige Militärdiktatur. Voraussetzung 
für deren Verhängung sind 1) Bedrohung oder 
Besetzung eines Landesteiles durch den Feind; 
2) innerer Aufruhr. Publikation im Reichsgesetz- 
blatt erforderlich. Die vollziehende Gewalt geht 
völlig auf die Militärbefehlshaber über, denen die 
Zivilbehörden unbedingten Gehossam zu leisten 
haben; für Militärpersonen gilt Kriegsrecht, für 
Zivilpersonen außergewöhnliche Bestimmungen 
über Strafverfahren (Kriegsgerichte) und Straf- 
recht; außerdem können bestimmte bürgerliche 
Rechte vom Militärbefehlshaber suspendiert wer- 
den. Während die ältere Theorie (G. Meyer, 
v. Mohl, v. Rönne) behauptete, daß die Regie- 
rungen der Einzelstaaten nach Maßgabe der Landes- 
gesetze (vgl. sächsisches Gesetz vom 10. Mai 1851, 
badisches Gesetz über den Kriegszustand und das 
Standrecht vom 29. Jan. 1851) befugt bleiben, 
den Belagerungs= oder Kriegszustand zu verkün- 
digen, steht demgegenüber die Wissenschaft heute 
vorwiegend auf dem Standpunkte, daß das, was 
die spezifische Natur des Kriegs= oder Belagerungs- 
zustandes ausmacht, die Ermächtigung zur Außer- 
kraftsetzung solcher Gesetze, die zu ihrem über- 
wiegenden Teile Reichsgesetze geworden sind, eben 
reichsgesetzlich ist. Die Wirksamkeit der Reichs- 
gesetze kann aber nicht durch partikularistische Nor- 
men noch durch außerordentliche Maßregeln par- 
tikularer Instanzen aufgehoben oder modifiziert 
werden, wenn nicht kraft ausdrücklicher Bestim- 
mung der Reichsgesetze hierzu die Ermächtigung 
gegeben ist. Nach Zorn wäre Gegenzeichnung des 
Reichskanzlers rechtlich nicht erforderlich. Nach 
Hänel (Deutsches Staatsrecht I (18921] 432 ff) 
hat diese zu erfolgen, wodurch der Reichskanzler 
die Verantwortlichkeit für die Formen und Vor- 
aussetzung, nicht aber für die militärischen An- 
ordnungen übernehme. 
VIII. Garantie der Verfassung der Glied- 
staaten durch das Beich. Da das Deutsche Reich 
„ein Staat ist, dessen tatsächliche Unterlage die 
Einzelstaaten bilden, so setzt es autonome Glied= 
staaten voraus“. Die Existenz der Einzelstaaten 
steht somit nicht im Belieben des verfassungs- 
mäßigen Staatswillens des Reiches; denn dieses 
beruht auf der Existenz der Einzelstaaten, sie 
können nicht vernichtet, mediatisiert werden. Diese 
Gliedstaaten haben ein verfassungsmäßiges Recht, 
daß das Reich ihre Integrität schütze. Art. 19 der 
Reichsverfassung bestimmt, daß Nichterfüllung der 
verfassungsmäßigen, d. i. der rechtlich begründeten 
Bundespflichten Bundesexekution nach sich 
kann, falls anderweitige Mahnungen fruchtlos 
bleiben. Über das Mittel dieser Exekution besteht 
Garantien, staatsrechtliche. 
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unter den Staatsrechtslehrern Meinungsverschie- 
denheit. Hänel meint, das Reich müsse sich erst 
durch Spezialgesetz diese „aktuelle" Gewaltbeilegen; 
Zorn dagegen ist der Auffassung, daß immer ein 
Beschluß des Bundesrates für jedwede Form und 
jedwedes Mittel der Exekution genüge. Im übrigen 
vgl. d. Art. Verfassung des Deutschen Reiches. 
Literatur. 1. Allgemeine Staatslehre 
u. Staatsrecht: v. Mohl, Staatsrecht, Völker- 
recht u. Politik II (1862); Zöpfl, Grundsätze des 
gem. deutschen Staatsrechts (2 Bde, 1863); Za- 
chariä, Deutsches Staats= A. Bundesrecht (3 Bde, 
*1865/67); Bluntschli, Die Lehre vom modernen 
Staat (5/1872); v. Seydel, Grundzüge einer allgem. 
Staatslehre (1873); Gierke, Grundbegriff des 
Staatsrechts, in Zeitschr. für die gesamten Staats- 
wissenschaften XXX (1874); Gerber, Grundzüge 
eines Systems des deutschen Staatsrechts (381880); 
H. Schulze, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts 
(2 Bde, 1881/86); Jellinek, Die Lehre von den 
Staatenverbindungen (1882); ders., System der 
subjektiven öffentl. Rechte (1892); Preuß, Ge- 
meinde, Staat, Reich (1889); Hänel, Deutsches 
Staatsrecht 1 (1892), in Bindings System. Handb. 
der deutschen Rechtswissensch., 5. Abt., 1. Tl; Mühl- 
brecht, Wegweiser durch die neuere Literatur der 
Rechts- u. Staatswissenschaft (2 Bde, 1893/1901); 
v. Ruville, Das Deutsche Reich ein monarchischer 
Einheitsstaat; Beweis für den staatsrechtl. Zusam- 
menhang zwischen altem u. neuem Reich (1895); 
Zorn, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches 
(2 Bde, 71895/97); Bornhak, Allgemeine Staats- 
lehre (1896); Rosin, Grundzüge einer allgemeinen 
Staatslehre nach den polit. Reden und Schrift- 
stücken des Fürsten Bismarck (1898); B. Schmidt, 
Der Staat (1896); Gumplowicz, Allgem. Staats- 
recht (21897); Rehm, Allgem. Staatslehre, in Mar- 
quardsens Handb. des öffentl. Rechts der Gegen- 
wart, Einl.-Bd (1899); van Calcker, Politik als 
Wissenschaft (1897); Kloeppel, Dreißig Jahre deut- 
scher Verfassungsgesch. (1900); Jellinek, Art. 
„Budget" im Handwörterbuch der Staatswissen- 
schaften (1898/1901); ders., Allgemeine Staatslehre 
(1900); Geffcken, Die Verfassung des Deutschen 
Reiches (1900); Anschütz, Bismarck u. die Reichs- 
verfassung (1900); R. Schmidt, Allgem. Staats- 
lehre I u. II (1901/03); Laband, Das Staatsrecht 
des Deutschen Reiches (4 Bde, 1901); Loening, 
Grundzüge d. Verfassung d. Deutsch. Reiches (1901), 
in Aus Natur u. Geisteswelt Bd 34; v. Jage- 
mann, Die deutsche Reichsverfassung (1904); An- 
schütz, Deutsches Staatsrecht, in Holtzendorffs En- 
zyklopädie der Rechtswissenschaft 1I (71904); G. 
Meyer, Lehrb. des deutschen Staatsrechts (61905, 
bearbeitet von Anschütz). 
2. Einzeldarstellungen: M. Seydel, Der 
deutsche Bundesrat (im Jahrb. für Gesetzgebung, 
N. F. 1II); Kliemke, Staatsrechtl. Natur u. Stel- 
lung des Bundesrats (Freiburger Diss., 1894); 
Bornhak, Die verfassungsrechtliche Stellung des 
deutschen Kaisertums, im Archiv für öffentl. Recht 
VlIII; Hänel, Das Kaisertum (1892); R. Fischer, 
Das Recht des Deutschen Kaisers (1894); Binding, 
  
  
deten Die rechtl. Stellung des Kaisers im heutigen Deut- 
ziehen schen Reich (1898) Hensel, Die Stellung des Reichs- 
kanzlers nach dem Staatsrecht des Deutschen Reiches 
(1882); Rosenberg, Die staatsrechtl. Stellung des
	        
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