401
(Staatsrecht des Deutschen Reiches I 198) be-
zeichnet die Verhängung des Belagerungszustandes
als Ausfluß des kaiserlichen Oberbefehls, woraus
sich ergibt, daß den Einzelstaaten jede Kompetenz
in dieser Hinsicht entzogen ist. Ausgenommen ist
jedoch bis zum Erlaß des vorbehaltenen Gesetzes
Bayern. Der Belagerungszustand schafft materiell
eine vollständige Militärdiktatur. Voraussetzung
für deren Verhängung sind 1) Bedrohung oder
Besetzung eines Landesteiles durch den Feind;
2) innerer Aufruhr. Publikation im Reichsgesetz-
blatt erforderlich. Die vollziehende Gewalt geht
völlig auf die Militärbefehlshaber über, denen die
Zivilbehörden unbedingten Gehossam zu leisten
haben; für Militärpersonen gilt Kriegsrecht, für
Zivilpersonen außergewöhnliche Bestimmungen
über Strafverfahren (Kriegsgerichte) und Straf-
recht; außerdem können bestimmte bürgerliche
Rechte vom Militärbefehlshaber suspendiert wer-
den. Während die ältere Theorie (G. Meyer,
v. Mohl, v. Rönne) behauptete, daß die Regie-
rungen der Einzelstaaten nach Maßgabe der Landes-
gesetze (vgl. sächsisches Gesetz vom 10. Mai 1851,
badisches Gesetz über den Kriegszustand und das
Standrecht vom 29. Jan. 1851) befugt bleiben,
den Belagerungs= oder Kriegszustand zu verkün-
digen, steht demgegenüber die Wissenschaft heute
vorwiegend auf dem Standpunkte, daß das, was
die spezifische Natur des Kriegs= oder Belagerungs-
zustandes ausmacht, die Ermächtigung zur Außer-
kraftsetzung solcher Gesetze, die zu ihrem über-
wiegenden Teile Reichsgesetze geworden sind, eben
reichsgesetzlich ist. Die Wirksamkeit der Reichs-
gesetze kann aber nicht durch partikularistische Nor-
men noch durch außerordentliche Maßregeln par-
tikularer Instanzen aufgehoben oder modifiziert
werden, wenn nicht kraft ausdrücklicher Bestim-
mung der Reichsgesetze hierzu die Ermächtigung
gegeben ist. Nach Zorn wäre Gegenzeichnung des
Reichskanzlers rechtlich nicht erforderlich. Nach
Hänel (Deutsches Staatsrecht I (18921] 432 ff)
hat diese zu erfolgen, wodurch der Reichskanzler
die Verantwortlichkeit für die Formen und Vor-
aussetzung, nicht aber für die militärischen An-
ordnungen übernehme.
VIII. Garantie der Verfassung der Glied-
staaten durch das Beich. Da das Deutsche Reich
„ein Staat ist, dessen tatsächliche Unterlage die
Einzelstaaten bilden, so setzt es autonome Glied=
staaten voraus“. Die Existenz der Einzelstaaten
steht somit nicht im Belieben des verfassungs-
mäßigen Staatswillens des Reiches; denn dieses
beruht auf der Existenz der Einzelstaaten, sie
können nicht vernichtet, mediatisiert werden. Diese
Gliedstaaten haben ein verfassungsmäßiges Recht,
daß das Reich ihre Integrität schütze. Art. 19 der
Reichsverfassung bestimmt, daß Nichterfüllung der
verfassungsmäßigen, d. i. der rechtlich begründeten
Bundespflichten Bundesexekution nach sich
kann, falls anderweitige Mahnungen fruchtlos
bleiben. Über das Mittel dieser Exekution besteht
Garantien, staatsrechtliche.
402
unter den Staatsrechtslehrern Meinungsverschie-
denheit. Hänel meint, das Reich müsse sich erst
durch Spezialgesetz diese „aktuelle" Gewaltbeilegen;
Zorn dagegen ist der Auffassung, daß immer ein
Beschluß des Bundesrates für jedwede Form und
jedwedes Mittel der Exekution genüge. Im übrigen
vgl. d. Art. Verfassung des Deutschen Reiches.
Literatur. 1. Allgemeine Staatslehre
u. Staatsrecht: v. Mohl, Staatsrecht, Völker-
recht u. Politik II (1862); Zöpfl, Grundsätze des
gem. deutschen Staatsrechts (2 Bde, 1863); Za-
chariä, Deutsches Staats= A. Bundesrecht (3 Bde,
*1865/67); Bluntschli, Die Lehre vom modernen
Staat (5/1872); v. Seydel, Grundzüge einer allgem.
Staatslehre (1873); Gierke, Grundbegriff des
Staatsrechts, in Zeitschr. für die gesamten Staats-
wissenschaften XXX (1874); Gerber, Grundzüge
eines Systems des deutschen Staatsrechts (381880);
H. Schulze, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts
(2 Bde, 1881/86); Jellinek, Die Lehre von den
Staatenverbindungen (1882); ders., System der
subjektiven öffentl. Rechte (1892); Preuß, Ge-
meinde, Staat, Reich (1889); Hänel, Deutsches
Staatsrecht 1 (1892), in Bindings System. Handb.
der deutschen Rechtswissensch., 5. Abt., 1. Tl; Mühl-
brecht, Wegweiser durch die neuere Literatur der
Rechts- u. Staatswissenschaft (2 Bde, 1893/1901);
v. Ruville, Das Deutsche Reich ein monarchischer
Einheitsstaat; Beweis für den staatsrechtl. Zusam-
menhang zwischen altem u. neuem Reich (1895);
Zorn, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches
(2 Bde, 71895/97); Bornhak, Allgemeine Staats-
lehre (1896); Rosin, Grundzüge einer allgemeinen
Staatslehre nach den polit. Reden und Schrift-
stücken des Fürsten Bismarck (1898); B. Schmidt,
Der Staat (1896); Gumplowicz, Allgem. Staats-
recht (21897); Rehm, Allgem. Staatslehre, in Mar-
quardsens Handb. des öffentl. Rechts der Gegen-
wart, Einl.-Bd (1899); van Calcker, Politik als
Wissenschaft (1897); Kloeppel, Dreißig Jahre deut-
scher Verfassungsgesch. (1900); Jellinek, Art.
„Budget" im Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften (1898/1901); ders., Allgemeine Staatslehre
(1900); Geffcken, Die Verfassung des Deutschen
Reiches (1900); Anschütz, Bismarck u. die Reichs-
verfassung (1900); R. Schmidt, Allgem. Staats-
lehre I u. II (1901/03); Laband, Das Staatsrecht
des Deutschen Reiches (4 Bde, 1901); Loening,
Grundzüge d. Verfassung d. Deutsch. Reiches (1901),
in Aus Natur u. Geisteswelt Bd 34; v. Jage-
mann, Die deutsche Reichsverfassung (1904); An-
schütz, Deutsches Staatsrecht, in Holtzendorffs En-
zyklopädie der Rechtswissenschaft 1I (71904); G.
Meyer, Lehrb. des deutschen Staatsrechts (61905,
bearbeitet von Anschütz).
2. Einzeldarstellungen: M. Seydel, Der
deutsche Bundesrat (im Jahrb. für Gesetzgebung,
N. F. 1II); Kliemke, Staatsrechtl. Natur u. Stel-
lung des Bundesrats (Freiburger Diss., 1894);
Bornhak, Die verfassungsrechtliche Stellung des
deutschen Kaisertums, im Archiv für öffentl. Recht
VlIII; Hänel, Das Kaisertum (1892); R. Fischer,
Das Recht des Deutschen Kaisers (1894); Binding,
deten Die rechtl. Stellung des Kaisers im heutigen Deut-
ziehen schen Reich (1898) Hensel, Die Stellung des Reichs-
kanzlers nach dem Staatsrecht des Deutschen Reiches
(1882); Rosenberg, Die staatsrechtl. Stellung des