Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Die Angelegenheit kam jedoch nicht zur Ruhe. 
Zwar ist ein Reichsstrafvollzugsgesetz vor der all- 
gemeinen Strafrechtsreform nicht zu erwarten, 
aber eine gewisse Vereinheitlichung des Strafvoll- 
zugs wurde wenigstens im Jahre 1897 dadurch 
erreicht, daß die Bundesregierungen sich über die 
beim Vollzuge gerichtlich erkannter Freiheitsstrafen 
bis zu weiterer gemeinsamer Reglung anzuwen- 
denden Grundsätze geeinigt haben (vgl. Bundes- 
ratsbeschluß vom 28. Okt. 1897). Im übrigen 
hat jeder Bundesstaat seine besondern Dienstord- 
nungen: so Baden die Dienst= und Hausordnung 
für die Zentralstrafanstalten vom 15. Dez. 1890, 
für die Kreis= und Amtsgefängnisse vom 31. März 
1885; Bayern die Hausordnung für die bay- 
rischen Strafanstalten vom 20. Sept. 1907; 
Preußen für die dem Justizministerium unter- 
stellten Gefängnisse usw. die Gefängnisordnung 
vom 21. Dez. 1898, für die dem Ministerium 
des Innern unterstellten Strafhäuser die Dienst- 
ordnung vom 14. Nov. 1902; Sachsen für 
die dem Ministerium des Innern unterstehen- 
den Landesstrafanstalten die Hausordnung vom 
20. Juni 1899, für die unter dem Justizministe- 
rium stehenden Gerichtsgefängnisse die seit 1. Jan. 
1903 in Geltung befindliche Geschäftsordnung 
für die sächsischen Justizbehörden bzw. deren XV. 
die Geschäfte der Gefängnisbeamten regelnder Ab- 
schnitt; Württemberg die Hausordnungen für 
die Strafanstalten und für die amtsgerichtlichen 
Gefängnisse vom 4. März 1899. 
Beklagenswert vom Standpunkt eines einheit- 
lichen Strafvollzugs ist in Preußen und Sachsen der 
Dualismus in der Leitung des Gefängniswesens, 
indem ein Teil der Strafanstalten dem Mini- 
sterium des Innern, ein anderer dem Justizmini- 
sterium unterstellt ist. In der Mehrzahl der deut- 
schen Bundesstaaten ist das Gefängniswesen Sache 
der Justizverwaltung, so namentlich in Bayern, 
Württemberg, Baden, Hessen, Oldenburg. 
Preußen zählt zur Zeit 32 Zuchthäuser und 
21 größere Gefängnisse, sowie im franzöfisch- 
rechtlichen Teile der Rheinprovinz 52 sog. Kan- 
tonsgefängnisse unter dem Ministerium des In- 
nern und 1057 Gefängnisse unter dem Justiz- 
ministerium, Bayern außer den Land= und Amts- 
gerichtsgefängnissen 6 Zuchthäuser und 9 Gefäng- 
nisse, Sachsen hat 2 Zuchthäuser und 9 größere 
Gefängnisse, Württemberg neben kleineren 
Gefängnissen 2 Zuchthäuser, 2 Landesgefängnisse 
und 1 Zellengefängnis, Baden 4 Zentralstraf- 
anstalten mit 1264 Einzelzellen bei einem durch- 
schnittlichen Gefangenenstand von 1292 sowie 4 
Kreis= und 61 Amtsgefängnisse, Hessen 7 Straf- 
anstalten. Von außerdeutschen Staaten zählte 
Belgien schon 1885 25 Zellengefängnisse mit 
4775 Einzelzellen. Die Schweiz ist infolge der 
kantonalen Autonomie zu keiner einheitlichen Aus- 
gestaltung des Strafvollzugs gelangt. In einer 
Anzahl Kantone ist das Progressivsystem durch- 
geführt, in zahlreichen, namentlich kleineren Kan- 
Gefängniswesen. 
  
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tonen liegt der Strafvollzug wegen des Fehlens 
gut eingerichteter Anstalten noch sehr im argen. 
Thurgau hat beispielsweise in seiner Anstalt Tobel 
das Auburnsche Schweigsystem eingeführt. Oster- 
reich hat 21 Strafanstalten (einschließlich 4 Zellen- 
gefängnissen), 71 Gerichts= und über 900 Bezirks- 
gefängnisse, in denen die Gefangenen zu Gruppen 
von 6 bis 30 Personen mit Schweiggebot zu ge- 
meinsamer Arbeit sowie bei Nacht vereinigt sind. 
Bei der Gruppenbildung wird auf Alter, Bil- 
dungsstand und Besserungsmöglichkeit Rücksicht 
genommen. Durch das Gesetz vom 1. April 1872 
wurde die Einzelhaft eingeführt; vollzogen wird 
sie aber nur da, wo die Räumlichkeiten es ge- 
statten. Nach einem Gesetz von 1867 muß bei der 
Verurteilung zu schwerem Kerker auf eine Ver- 
schärfung (Fasten, hartes Lager, Dunkelhaft usw.) 
erkannt werden. Die weiblichen Strafanstalten 
werden von Ordensfrauen geleitet. Den Straf- 
vollzug an Jugendlichen regelt in zweckentsprechen- 
der Weise die Verordnung des Justizministeriums 
vom 30. Sept. 1905. 
Über den Strafvollzug im einzelnen sei hier aus 
der großen Fülle des Materials nur das Wichtigste 
hervorgehoben: 
1. Leitung und Personal. Die Gefängnis- 
beamten teilen sich in Ober= und Unterbeamte. 
Zu den ersteren gehören der Vorstand (Direktor), 
die Verwaltungsbeamten (Inspektoren, Verwalter, 
Rechner, Rendanten, Buchhalter), die Sekretäre 
und sonstigen Kanzleibeamten, die technischen Be- 
amten (Geistliche, Arzte, Lehrer). Die Unterbeamten 
sind im wesentlichen Aufsichtsbeamte (Hausväter 
oder Hausinspektoren, Oberaufseher, Ausseher). 
Einzelne derselben müssen besondere technische Be- 
fähigungen besitzen: die Werkmeister für die Lei- 
tung des Arbeitsbetriebs, die Maschinenmeister für 
die Beaufsichtigung der maschinellen Anlagen, die 
Heilgehilfen für die Krankenpflege und Ausübung 
der niedern Chirurgie. Zur Bewachung der weib- 
lichen Gefangenen werden in den größeren An- 
stalten ausschließlich, in den kleineren, soweit tun- 
lich, weibliche Bedienstete (Hausmütter, Oberauf- 
seherinnen, Aufseherinnen) verwendet. 
Die oberste Leitung und Aussicht über das Ge- 
fängniswesen steht in Preußen hinsichtlich der 
Gerichtsgefängnisse eines Oberlandesgerichtsbe- 
zirkes unter Aufsicht des Justizministers dem Ober- 
staatsanwalt zu. Die dem Ministerium des Innern 
unterstellten Strafanstalten stehen zunächst unter 
den Bezirksregierungen. Der Oberlandesgerichts- 
präsident und der Oberstaatsanwalt haben jedoch 
das Recht, die im Bezirk des Oberlandesgerichts 
belegenen Strafanstalten und Gefängnisse zu be- 
sichtigen und namentlich sich davon zu überzeugen, 
daß im Strafvollzuge und in der Behandlung der 
Gefangenen die gesetzlichen Vorschriften beachtet 
werden. In Bayern stehen die Straf= und Ge- 
fangenenanstalten unmittelbar unter dem Justiz- 
ministerium; für die Land= und Amtsgerichts- 
gefängnisse sind die Oberstaatsanwälte die Mittel-
	        
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