Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

427 
behörde. Außerdem besteht für das Zellengefäng- 
nis in Nürnberg ein Aufsichtsrat aus Staats- 
beamten und bürgerlichen Mitgliedern, welcher die 
xBehandlung der Sträflinge zu überwachen und 
über gewisse Beschwerden derselben zu entscheiden 
hat. Bei den Gerichtsgefängnissen bestehen Kom- 
missionen aus dem Vorstand, dem Amtsarzt, 
einem Finanzbeamten, dem Untersuchungsrichter 
oder Amtsanwalt, welche die Gefängnisse zu über- 
wachen und den Arbeitsbetrieb zu führen haben. 
In Württemberg unterstehen die Strafanstal- 
ten einem dem Justizministerium unterstellten Kol- 
legium, das aus Beamten der Ministerien der 
Justiz und des Innern, einem Finanzbeamten, 
zwei Geistlichen, einem Arzte und einem Kauf- 
mann zusammengesetzt ist. In Baden ist die 
Leitung des Gefängniswesens dem Justizminister 
unterstellt. Für jede Zentralstrafanstalt besteht 
außerdem ähnlich wie für das Zellengefängnis in 
Nürnberg mit weitgehenden Befugnissen ein Auf- 
sichtsrat, dem außer Vorstand, Verwalter, Arzt, 
Hausgeistlichen und dem dienstältesten Hauslehrer 
der Anstalt noch auf Berufung durch das Mini- 
sterium ein Rechtsgelehrter als Vorsitzender und 2 
bis 5 nicht im aktiven Staatsdienst stehende Orts- 
einwohner angehören. 
2. Arbeitsbetrieb. Die Gefängnisarbeit 
ist entweder Regie-, Unternehmer (Entreprise)= oder 
Akkordarbeit. Bei der Regiearbeit schafft der 
Staat das Rohmaterial an und läßt es unter 
seiner Leitung und zu seinem Nutzen verarbeiten 
und verkaufen. Hier erscheint der Staat selbst als 
Kaufmann. Beim Entreprisesystem ver- 
dingt das Gefängnis die Arbeitskraft der Ge- 
fangenen. Der Privatunternehmer vergütet dem 
Staat die gemietete Arbeitskraft nach einem festen 
Satz, meist auf Kopf und Arbeitstag. Beim 
Akkordsystem wird die Arbeitsleitung vom 
Staat mit seinem Personal geübt. Der Gefangene 
kann hier in keine Beziehung zum Arbeitgeber 
kommen. Dieser bezahlt dem Staat entweder einen 
Gefängniswesen. 
428 
tigt werden: zur Beschaffung des Bedarfs für das 
Landheer und die Marine u. dgl. 
Wenn auch der Ertrag der Gefangenenarbeit dem 
Staate gehört und der Gefangene keinen Rechts- 
anspruch auf irgend einen Lohn für seine Arbeits- 
leistungen hat, so kommt doch anderseits wieder der 
Grundsatz, daß der Gefangene die Arbeit als sein 
eigenes Interesse auffassen soll, darin zum Aus- 
druck, daß dem Verurteilten ein Verdienstanteil 
von 3 bis 30 Pfennig pro Tag (sog. peculium) 
gewährt werden kann, der ihm teilweise bis zur 
Entlassung gutgeschrieben, teilweise zur freien 
Verfügung und zur Beschaffung kleinerer Genuß- 
mittel (besserer Beköstigung wie Milch, Eier, Obst, 
Schnupftabak usw.) überlassen bleibt. Zur Deckung 
der Strafvollstreckungskosten dürfen die Arbeits- 
belohnungen der Gefangenen nicht verwendet 
werden. 
3. Hygiene. Durch Sorge für Reinlichkeit, 
frische Lust und ausreichende Ernährung soll die 
Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit der Gefange- 
nen erhalten, durch Vermehrung der Isolier= und 
der Schlafzellen die Gefahr der Verseuchung ver- 
mindert werden. Überhaupt sollen Anlage und 
Einrichtungen der Strafanstalten allen Anforde- 
rungen der Hygiene entsprechen. Die Einzelzelle 
soll einen Mindestluftraum von 22 ms, die Fen- 
ster sollen eine Lichtfläche von 1 m2 haben. Für 
Schlafzellen genügt ein Lustraum von 11 ms und 
eine Lichtfläche von ½ m2. Jedes Zellenfenster soll 
so eingerichtet sein, daß es mindestens zur Hälfte 
geöffnet werden kann. In Gemeinschaftsräumen 
für den Aufenthalt bei Tag muß auf den einzelnen 
Gefangenen ein Mindestluftraum von 16 ms 
entfallen, in gemeinschaftlichen Schlafräumen ein 
solcher von 10 ms. 
Diie Leibwäsche wird wöchentlich gewechselt. 
Männlichen Zuchthaussträflingen und jugendlichen 
Gefangenen wird das Haar kurz geschoren und der 
Bart abgenommen; bei den übrigen Gefangenen 
wird beides nur aus Gründen der Reinlichkeit und 
  
Tags oder einen Stücklohn und empfängt die von der Schicklichkeit verändert. Jeder Gefangene soll 
ihm hingegebenen Rohstoffe nach der Verarbeitung täglich ½ bis 1 Stunde Bewegung im Freien 
zurück zu seinem eigenen weiteren Verschleiß. Vom haben. Die tägliche Arbeitszeit beträgt 11 bis 
Standpunkt eines rationellen Strafvollzugs ver= 12 Stunden. 
dienen Regie= und Akkordarbeit den unbedingten Für die Ernährung ist eine bestimmte, auf 
Vorzug vor dem Entreprisesystem. In Baden, wissenschaftlicher Grundlage beruhende Kostord- 
Oldenburg und Bremen ist Regie= und Akkord= nung vorgeschrieben, die den nötigen Gehalt der 
arbeit, in Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen 
und Hessen Entreprise= und Regiearbeit eingeführt. 
Die Gefängnisarbeit ist nicht bloß bedeutsam 
für den Strafvollzug, sondern berührt auch die 
verschiedenen gewerblichen Kreise. Wenn sie aus 
finanziellen, volkswirtschaftlichen und strafpoli- 
tischen Gründen nicht abgeschafft werden kann, 
so darf doch durch dieselbe nicht einzelnen Zweigen 
der freien Arbeit eine verderbliche Konkurrenz ge- 
macht werden, indem die Erzeugnisse zu Preisen 
ausgeboten werden, für welche sie der freie Arbeiter 
nicht herstellen kann. Nach Möglichkeit sollen die 
Gefangenen zu allgemeinen Staatszwecken beschäf- 
Speisen an Fett, Eiweiß und sonstigen Nahrungs- 
stoffen berücksichtigt und für angemessene Abwechs- 
lung Sorge trägt. Jede größere Strafanstalt hat 
ihren Hausarzt. Die kranken Gefangenen werden 
in der Zelle oder in einem Lazarett gepflegt und 
täglich vom Arzt besucht. Bei verschiedenen Straf- 
anstalten sind Irrenabteilungen als Adnexe ein- 
gerichtet, in die geistig erkrankte Strafgefangene 
und, soweit es der vorhandene Raum gestattet, 
auch Untersuchungsgefangene zur Feststellung ihres 
Geisteszustandes ausgenommen werden können. 
Durch den Aufenthalt eines Strafgefangenen in 
einer solchen Abteilung wird der Strafvollzug nicht
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.