Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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der in der Freiheit verwendeten Lohnklasse ver- 
langen kann. Bei „Jugendlichen“ trägt sogar 
mangels eigenen oder Arbeitsguthabens die Staats- 
kasse die durch die wöchentliche Markenklebung ver- 
ursachten Kosten. 
VII. Reform des Gefängniswesens. Von 
Bedeutung für die Reform des Gefängniswesens 
waren die internationalen Strafanstaltskongresse, 
deren erster 1846 in Frankfurt a. M. tagte. Aus 
dem Londoner Kongreß (1872), auf welchem 
22 Staaten durch 100 Delegierte vertreten waren, 
ging die internationale Strafanstaltskommission 
(Commission pénitentiaire internationalc) 
hervor. Aufklärend und grundlegend haben ferner 
gewirkt: die Rheinisch-Westfälische Gefängnisge- 
sellschaft (gegr. 1826), der Verein der deutschen 
Strafanstaltsbeamten (gegr. 1864), der Deutsche 
Juristentag (gegr. 1867), die internationale Kri- 
minalistische Vereinigung (gegr. 1889), der Nord- 
westdeutsche Verein für Gefängniswesen und zahl- 
reiche andere Gesellschaften in und außerhalb 
Deutschlands. 
Die Hauptreformpunkte sind folgende: 
1. Der einheitliche Vollzug der Freiheitsstrafen 
soll durch ein Reichsstrafvollzugsgesetz 
sichergestellt werden (ogl. V). 
2. Scharfe Differenzierung beim Voll- 
zug von Zuchthaus= und Gefängnisstrafen. Die- 
selben sind nicht nur in getrennten Abteilungen 
oder besondern Gebäuden, sondern in verschiedenen 
Anstalten zu vollstrecken. 
3. Kurzzeitige Freiheitsstrafen sollen 
für die Regel überhaupt nicht — ausnahmsweise 
nur mit Strafschärfungen wie Dunkelarrest, hartes 
Lager, Beschränkung der Nahrung aufs Nötigste, 
Verbot der Lektüre, Korrespondenz und Besuche. 
kürzere Bewegung im Freien u. dgl. — verhängt 
werden, weil sie weder bessern noch abschrecken 
noch unschädlich machen. Statt dessen sollen die 
Geldstrafen erweiterte Anwendung und Ausbildung 
erfahren. 
4. Sofern nicht körperliche oder geistige Ge- 
fährdung zu befürchten ist, strenge Durchführung 
der Einzelhaft, die heute nicht einmal in 50% 
der Straffälle vollzogen wird (vgl. II). 
5. Ausschluß der Entreprise 
der Regie= und Akkordarbeit (ugl. V 2) 
6. Größere Individualisierung der Ge- 
zugunsten 
fangenen unter Ausbildung des Stufensystems, 
durch das ein allmähliches Aufsteigen in die Frei- 
heit und eine allmähliche Anpassung an die Ge- 
sellschaft erreicht werden soll. " 
7. Bei Jugendlichen ist noch weit mehr 
Gefängniswesen. 
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für Jugendliche muß die Einzelhaft strikte durch- 
geführt werden. Jugendliche sollen tunlichst nicht 
oder nur, soweit absolut erforderlich, in kleinen 
Gefängnissen verwahrt werden, da dort ein er- 
ziehlicher Einfluß mangels Gottesdienstes, Unter- 
richts und geregelten Arbeitsbetriebes nicht mög- 
lich ist. Für die Jugendlichen dürfen nur solche 
Beamten verwendet werden, die auch Erzieher 
sind. Damit auch erziehlich gewirkt werden kann, 
muß eine genügende Anzahl von Beamten vor- 
handen sein. Dem Unterricht muß erhöhte Auf- 
merksamkeit zugewendet werden. Die Beschäftigung 
mit Handfertigkeitsarbeiten ist nach 
Möglichkeit zu fördern. Die Zuteilung zu einer 
Beschäftigung hat mit besonderer Sorgfalt 
zu geschehen; insbesondere ist auf die Erlernung 
eines Handwerks hinzuwirken. Die Freizeit 
ist neben der Lektüre mit Exerzier= und Frei- 
übungen auszufüllen. Auf die Fürsorge nach 
der Entlassung muß so frühzeitig und so um- 
fassend wie möglich das Augenmerk gerichtet 
werden. 
8. Die Behandlung der weiblichen Ge- 
fangenen hat nach andern Grundsätzen wie die 
der Männer zu geschehen. Auf die Eigenart des 
weiblichen Wesens ist stets die erforderliche Rück- 
sicht zu nehmen (z. B. auch hinsichtlich der Be- 
köstigung). Vergünstigungen sollen weiblichen Ge- 
fangenen in größerem Umfange gewährt werden 
wie männlichen. 
9. Die vorläufige Entlassung ist auf 
alle Strafen von einem Jahr und darüber auszu- 
dehnen, wobei aber die Bewährungsfrist auf min- 
destens drei Jahre festgesetzt werden soll (vgl. IV). 
Für Bewilligung der vorläufigen Entlassung soll 
ausschließlich die Beamtenkonferenz und die Auf- 
sichtskommission (bzw. der Aussichtsrat) zustän- 
dig sein. 
Literatur. v. Holtzendorff u. v. Jagemann, 
Handbuch des G.s (2 Bde, 1888); Blätter für Ge- 
fängniskunde, Organ des Vereins deutscher Straf- 
anstaltsbeamten (seit 1864); Monatsschr. f. Krimi- 
nalpsychologie u. Strafrechtsreform; v. Stengel, 
Wörterb. des deutschen Verwaltungsrechts (2 Bde, 
1889/90); Krohne, Lehrbuch der Gefängniskunde 
11889); Krauß, Im Kerker vor u. nach Christus 
(1895); Krohne u. Uber, Die Strafanstalten u. 
Gefängnisse in Preußen (1901); Klein, Verwal- 
tung u. Strafvollzug in den preuß. Justizgefäng- 
r nissen (1905); Wulff, Die Gefängnisse der Justiz= 
verwaltung in Preußen (21900); Appel, Der Voll- 
zug der Freiheitsstrafen in Baden (1905); Hoff- 
mann, Das G. in Hessen (1899); Leitmaier, Österr. 
Gefängniskunde (1890); Aschrott, Strafen u. G. 
  
wie bisher der Erziehungs= und Besserungszweck in England während des letzten Jahrzehnts (1.96); 
zu berücksichtigen. Der Strafvollzug hat in be= v. Rohden, Probleme der Gefangenenseelsorge u. 
sondern Anstalten oder Abteilungen für Jugend- 
liche zu erfolgen. In kleinen Gefängnissen — 
auch als Untersuchungsgefangene — müssen die 
Jugendlichen unbedingt in Einzelhaft, sofern 
nicht gesundheitliche Bedenken entgegenstehen, 
untergebracht werden. Auch in den Strafanstalten 
Entlassenenfürsorge (1908); E. Rosenfeld, 200 Jahre 
Fürsorge der preuß. Staatsregierung für die ent- 
lassenen Gefangenen (1905); Fuchs, Die Vereins- 
fürsorge für entlassene Gefangene (1889); E. Wag- 
ner, Wirtschaftl. Fürsorge für Angehörige Deti- 
nierter (21900); Heimberger, Zur Reform des 
Strafvollzugs (1905); Rivista delle discipline
	        
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