Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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sich die Vertreter der letzgenannten Ansicht bis- 
her meist in Widersprüche verwickeln. Sie geben 
1) zu, daß Widerstand und Absetzung erlaubt 
werden können, falls die Verfassung oder Wahl- 
kapitulationen und Unionsverträge eine ausdrück- 
liche Handhabe dazu bieten (wie z. B. die eng- 
lische Verfassung). Sollte aber, was positive, ge- 
schriebene Dokumente vermögen, nicht in höherem 
Maße das gottgegebene, natürliche Recht des 
Volkes zu leisten imstande sein? 2) Sie gestatten 
selbst dem einzelnen Bürger aktiven Widerstand 
und eventuell Tötung des Tyrannen, wenn er in 
gerechter Notwehr das Leben oder die höchsten 
Lebensgüter gegen brutale Gewalt zu verteidigen 
hat. Steht aber die Wohlfahrt des Volkes nicht 
ebenso hoch, ja höher als das Leben des Ein- 
zelnen? Ist die gewaltsame Notwehr eines Volkes 
rechtsphilosophisch nicht leichter zu begründen als 
die des einzelnen Bürgers? 3) Eine usurpierte 
Herrschaft kann nach denselben Autoren durch eine 
Art von Verjährung derart legitimiert werden, 
daß die frühere Dynastie ihre Ansprüche verliert. 
Wir hörten (Nr 3), daß der Grund dieser Rechts- 
übertragung nicht in der Zeitdauer oder in der 
Macht der Tatsachen, sondern in dem zwingenden 
Bedürfnis des Gemeinwohls, in der Macht des 
höchsten Staatszweckes liegt. Warum soll dieser 
Zweck nicht dieselbe Macht entfalten in unserem 
Falle, wo er nur die gebotene Rettung des Volkes, 
nicht zugleich die Legitimierung eines geschehenen 
Unrechts bewerkstelligen soll! 
5. Verhältnis zum kirchlichen Ge- 
horsam. Die Existenz der Kirche und ihrer Ge- 
setzgebung, in der wir oben (Nr 2) einen bedeut- 
samen Anlaß zur Läuterung und Vertiefung der 
Untertanenpflicht sahen, wird von protestantischer 
und moderner Seite häufig als eine Gefährdung 
des bürgerlichen Gehorsams der Katholiken be- 
zeichnet. Für das Mittelalter geben besonnene For- 
scher beider Konfessionen zu, daß die damalige poli- 
tische Machtstellung des Papstes über den Staaten 
nicht der einfache Ausdruck katholischer Grund- 
sätze, noch weniger aber ein Produkt anmaßender 
Herrschsucht, vielmehr das komplizierte Ergebnis 
weittragender geschichtlicher Ideen und Kräfte ge- 
wesen ist. Für die heutige Zeit hat Leo XIII. in 
den schon erwähnten Rundschreiben Diuturnum 
illud, Immortale Dei und Sapientiae christi- 
anae die wesentliche Sonderung des weltlichen und 
geistlichen Gebietes und die Souveränität (su- 
Premum imperium) des Staates auf ersterem in 
aller Form anerkannt; ebenso erklärte Pius X. in 
einem Schreiben an den Kardinal Fischer am 
30. Okt. 1906, der Gehorsam gegen den Papst 
„lasse jedem die volle Freiheit in den die Religion 
nicht berührenden Dingen“. Die gegnerische Po- 
lemik beruft sich, um trotzdem die Staatsgefährlich- 
keit des kirchlichen Gehorsams zu beweisen, auf 
einzelne Stellen der erwähnten Rundschreiben, die 
aus dem erhabenen, überirdischen Zwecke der Kirche 
zu folgern scheinen, daß in Konfliktsfällen und in 
Gehorsam, staatsbürgerlicher. 
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sog. gemischten Sachen stets der kirchliche Befehl 
den Vorzug habe. Allein davon abgesehen, daß 
Leo XIII. für die gemischten Sachen ausdrücklich 
die „friedliche Verständigung“ beider Gewalten 
als das Normale hinstellt, setzt er bei jener Ver- 
gleichung der Zwecke und der aus ihr gezogenen 
Folgerung offenbar voraus, daß in dem gedachten 
Konflikte die Kirche ein wirkliches Lebensinteresse 
(„göttliches Recht") verteidigt, während der Staat 
nur scheinbar die irdische Wohlfahrt der Bürger 
vertritt. Die These aber, daß der religiöse, ab- 
solute Zweck der Menschheit dem weltlichen, poli- 
lischen vorgeht, ist — auch bei Annahme eines tat- 
sächlichen Konfliktes — unanfechtbar. Mit ihr sind 
jedoch folgende Möglichkeiten vom katholischen 
Standpunkte vereinbar, die im Einzelfalle der 
staatlichen Forderung den Vorzug geben können: 
1) Eine Leistung kann zum staatlichen Wohle in 
nächster, zum kirchlichen in entfernter Beziehung 
stehen; denken wir an die Immunität kirchlicher 
Güter bei höchster Not des Vaterlandes. 2) Auf 
Rechtsgüter, die der kirchlichen wie staatlichen Ge- 
setzgebung unterstehen und an sich verschiedener 
Reglung fähig sind, kann der Staat ein älteres, 
anerkanntes Recht haben. 3) Es ist der Fall denk- 
bar, daß die kirchliche Obrigkeit in irrtümlicher 
Beurteilung der Tatsachen oder unberechtigter 
Handhabung der Gewalt ihren Interessenkreis 
überschreitet und in weltliches Gebiet übergreift. — 
Die Geschichte der neueren Zeit, sowohl bei Aus- 
einandersetzungen zwischen Kirche und Staat wie 
bei innerstaatlichen Bewegungen, zeigt übrigens, 
daß diese Grenzbestimmungen weniger praktische 
Bedeutung für die kirchliche Politik haben als 
die Mahnung an die Staatsgewalt, die Rechte 
der Religion und Kirche zu achten, und ferner, 
daß die Gefahren für den staatsbürgerlichen 
Gehorsam heute an ganz anderer Stelle zu 
suchen sind als in der kirchlichen Abhängigkeit der 
Katholiken. 
Literatur. Thom. v. Aquin, S. theol. III q. 95, 
96; II II qd. 104, 105; Suarez, De legibus I. 3, 4; 
Bellarmin, De Rom. Pontif. 1I. 4, 15; J. Balmes, 
Protestantismus u. Katholizismus in ihren Be- 
ziehungen zur europ. Zivilisation (2 Bde, 1888); 
JF. Walter, Naturrecht u. Politik (21871); J. Her- 
genröther, Kathol. Kirche u. christl. Staat (1872); 
Th. Meyer, Die Grundsätze der Sittlichkeit u. des 
„Rechts (1868); J. H. Newman, Letter to the 
„Duke of Norfolk in defence of the Pope and 
Council (1875); A. Lehmkuhl, Der Gehorsam gegen 
die menschl. Gesetze (Stimmen aus Maria-Laach 
XIII (1877) 298 ff); H. Lämmer, Institutionen des 
kath. Kirchenrechts (71892); A. Bigelmair, Die 
Beteiligung der Christen am öffentl. Leben in vor- 
konstantinischer Zeit (1902).— R. v. Mohl, Gesch. 
u. Lit. der Staatswissensch. 1 (1855); derf., Enzy- 
klopädie der Staatswissensch. (1872); Bluntschli, 
Staatswörterbuch, hrsg. von Loening (3 Bde, 
1869/75); Laband, Das Staatsrecht des Deutschen 
Reiches (I u. IV. (1901); v. Rönne, Das Staats- 
recht der preuß. Monarchie (I 31899, II 51906 hrsg. 
von Zorn). [Mausbach.] 
 
	        
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