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unter dem Einfluß der allgemeinen Kulturentwick-
lung veränderlich sind.
Die Gemeinde ist historisch und naturrechtlich
das Frühere. Wenn trotzdem dem Staate die
Souveränität über die Gemeinde zukommt, so
gründet sich diese darauf, daß der Staat zwar
eine jüngere, aber auch vom Standpunkt der
Weltordnung und der Kulturentwicklung eine
höhere Ordnung ist. Es hat deshalb vom Stand-
punkte des positiven Staatsrechts aus eine ge-
wisse Berechtigung, daß die Gemeinde ihre Be-
fugnisse, ihre Aufgaben und ihre Autorität vom
souveränen Staate ableite, der die Gemeinde in
ihrer Rechtsstellung konstituieren und wieder auf-
lösen, ihre einzelnen Rechte beschränken oder er-
weitern könne, ohne an materielle Schranken ge-
bunden zu sein. Vom naturrechtlichen Stand-
punkt aus hat aber der Staat die Pflicht, die
natürliche Rechtsstellung der Gemeinde zu achten.
Er hat die Befugnis, dieselbe zu regeln und zu
bestimmen; aber er hat nicht das Recht, sie zu
unterdrücken oder zu vernichten. Die richtige
Ordnung der Grenzen zwischen dem Machtbereich
und dem Wirkungskreise des Staates einerseits
und der Gemeinde anderseits bildet eine der wich-
tigsten Garantien für die Freiheit im staatlichen
Leben. In der Erkenntnis und Innehaltung dieser
Grenzen muß sich der staatsmännische Geist der
innern Politik zeigen. Daher der Satz, daß die
bürgerliche Freiheit zusammenfalle mit der Ge-
meindefreiheit, ein Satz, der entstanden ist im
Lichte der Einsicht, daß die Selbständigkeit der
Gemeinde von Staats wegen vielfach ungebührlich
beschränkt wurde und noch wird. Dabei bleibt
aber die Möglichkeit, daß bei hoch entwickelter
Freiheit der Gemeinde als solcher im Staate und
gegenüber dem Staate die Freiheit der einzelnen
Bürger oder gewisser Klassen der Bürger inner-
halb der Gemeinde in ungebührlicher Weise be-
schränkt wird, und zwar gerade durch die Ge-
meindegewalt. Wie die Freiheit im Staate besteht
in der gerecht und sachgemäß getroffenen Ab-
messung der Funktionen und Rechte der sämtlichen
staatlichen Faktoren untereinander, so besteht die
Bürgerfreiheit ebenso in einer vernünftigen Ab-
grenzung der Macht= und Interessensphäre der
Gemeinde gegenüber dem Staat wie in einer an-
gemessenen Ordnung der Stellung des einzelnen
Bürgers innerhalb des Staates und der Gemeinde
und seiner Beteiligung an der Verwaltung der
staatlichen und gemeindlichen Angelegenheiten.
II. Die Stellung der Gemeinde in und
gegenüber dem Staale. Die Grenzen zwischen
den Machtsphären von Staat und Gemeinde sind
im einzelnen schwankend, teils von dem jeweiligen
Kulturzustande abhängend, teils von der histori-
schen Entwicklung beeinflußt. An sich sind alle
staatlichen Aufgaben des in der Gemeinde ab-
gegrenzten Teiles der menschlichen Gesellschaft
auch solche der Gemeinde. Die Grenze ist nur ge-
Gemeinde.
geben mit der tatsächlichen Leistungsfähigkeit.
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Alles, was die Gemeinde an solchen Aufgaben mit
ihren Mitteln und auf ihrem Gebiete leisten kann,
das darf und soll sie leisten. Dem souveränen
Staate verbleibt zunächst nur eine regelnde Tätig-
keit, um unter den verschiedenen Gemeinden eine
für höhere Aufgaben notwendige Einheitlichkeit
der Entwicklung zu wahren. Sodann fallen dem
Staate diejenigen Aufgaben zu, welche als beson-
dere Aufgaben der Gesamtheit im Gegensatz zu
den einzelnen Gemeinden zu betrachten sind, wie
die Landesverteidigung, die Landespolizei, das
Landesverkehrswesen, die höchste Gerichtsbarkeit,
und in letzter Linie erst diejenigen Aufgaben,
welche an sich wohl geeignet sind für die Gemeinde,
aber über deren Leistungsfähigkeit hinausgehen.
Staatsrechtlich muß natürlich im Zweifel die Be-
stimmung der Grenze dem souveränen Staate zu-
stehen, wie sehr auch häufig die Grenzziehung
im Einzelfalle der politischen Kritik Angriffspunkte
ietet.
Die griechischen Staaten des klassischen
Altertums, sowohl in Europa wie in Kleinasien,
waren durchweg nur erweiterte Gemeinden. Die
Verfassungen des Solon und Lykurg waren Ge-
meindeverfassungen und schon ihren Grundge-
danken nach nicht auf größere Staatswesen anwend-
bar. Dasselbe gilt von den ältesten Einrichtungen
Roms. Sobald sich jedoch Rom mit der Aus-
dehnung seines Gebietes zu einem Großstaat
herausbildete, entwickelte sich gleichzeitig und in
steigendem Maße eine Selbständigkeit der Ge-
meinde. Den eroberten Städten wurde eine gewisse
Selbständigkeit gelassen, den in die neu erworbenen
Gebiete ausgesandten Kolonien bald eine größere
Unabhängigkeit gewährt. Im späteren römischen
Staate hatten alle Provinzialstädte, vornehmlich
aber die municipia, eine ziemlich weit begrenzte
gemeindliche Selbständigkeit. Die letzteren standen
unter einem corpus oder collegium decurionum,
welche als magistratus municipales bie öffent-
lichen Gelder verwalteten und eigene ausführende
Organe in den duumviri hatten. Neben diesen
bestanden gemeindliche aediles für die Sicherheit
des Straßen= und Marktverkehrs. Man unter-
schied die Gemeindeämter in honores, welche die
Ausübung einer öffentlichen Gewalt in sich be-
griffen, und munera, d. h. die Wahrnehmung der
wirtschaftlichen Aufgaben der Gemeinde, welche
von den einzelnen Gemeindemitgliedern unentgelt-
lich zu übernehmen waren. Es gab ein besonderes
ins originis, d. h. ein Bürgerrecht in der Hei-
matsgemeinde, neben welchem das allgemeine
Bürgerrecht für alle römischen Bürger in der
Stadt Rom bestehen blieb.
Klarer und ausgeprägter gestaltete sich die
Selbständigkeit der Gemeinden im germanischen
Mittelalter. Die heidnische Auffassung, wo-
nach die Persönlichkeit gegenüber dem Staate
rechtlos ist, wurde überwunden durch die christliche
Auffassung von den ethischen Grenzen der Staats-
gewalt und ersetzt durch die Erhebung der selbst-