Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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unter dem Einfluß der allgemeinen Kulturentwick- 
lung veränderlich sind. 
Die Gemeinde ist historisch und naturrechtlich 
das Frühere. Wenn trotzdem dem Staate die 
Souveränität über die Gemeinde zukommt, so 
gründet sich diese darauf, daß der Staat zwar 
eine jüngere, aber auch vom Standpunkt der 
Weltordnung und der Kulturentwicklung eine 
höhere Ordnung ist. Es hat deshalb vom Stand- 
punkte des positiven Staatsrechts aus eine ge- 
wisse Berechtigung, daß die Gemeinde ihre Be- 
fugnisse, ihre Aufgaben und ihre Autorität vom 
souveränen Staate ableite, der die Gemeinde in 
ihrer Rechtsstellung konstituieren und wieder auf- 
lösen, ihre einzelnen Rechte beschränken oder er- 
weitern könne, ohne an materielle Schranken ge- 
bunden zu sein. Vom naturrechtlichen Stand- 
punkt aus hat aber der Staat die Pflicht, die 
natürliche Rechtsstellung der Gemeinde zu achten. 
Er hat die Befugnis, dieselbe zu regeln und zu 
bestimmen; aber er hat nicht das Recht, sie zu 
unterdrücken oder zu vernichten. Die richtige 
Ordnung der Grenzen zwischen dem Machtbereich 
und dem Wirkungskreise des Staates einerseits 
und der Gemeinde anderseits bildet eine der wich- 
tigsten Garantien für die Freiheit im staatlichen 
Leben. In der Erkenntnis und Innehaltung dieser 
Grenzen muß sich der staatsmännische Geist der 
innern Politik zeigen. Daher der Satz, daß die 
bürgerliche Freiheit zusammenfalle mit der Ge- 
meindefreiheit, ein Satz, der entstanden ist im 
Lichte der Einsicht, daß die Selbständigkeit der 
Gemeinde von Staats wegen vielfach ungebührlich 
beschränkt wurde und noch wird. Dabei bleibt 
aber die Möglichkeit, daß bei hoch entwickelter 
Freiheit der Gemeinde als solcher im Staate und 
gegenüber dem Staate die Freiheit der einzelnen 
Bürger oder gewisser Klassen der Bürger inner- 
halb der Gemeinde in ungebührlicher Weise be- 
schränkt wird, und zwar gerade durch die Ge- 
meindegewalt. Wie die Freiheit im Staate besteht 
in der gerecht und sachgemäß getroffenen Ab- 
messung der Funktionen und Rechte der sämtlichen 
staatlichen Faktoren untereinander, so besteht die 
Bürgerfreiheit ebenso in einer vernünftigen Ab- 
grenzung der Macht= und Interessensphäre der 
Gemeinde gegenüber dem Staat wie in einer an- 
gemessenen Ordnung der Stellung des einzelnen 
Bürgers innerhalb des Staates und der Gemeinde 
und seiner Beteiligung an der Verwaltung der 
staatlichen und gemeindlichen Angelegenheiten. 
II. Die Stellung der Gemeinde in und 
gegenüber dem Staale. Die Grenzen zwischen 
den Machtsphären von Staat und Gemeinde sind 
im einzelnen schwankend, teils von dem jeweiligen 
Kulturzustande abhängend, teils von der histori- 
schen Entwicklung beeinflußt. An sich sind alle 
staatlichen Aufgaben des in der Gemeinde ab- 
gegrenzten Teiles der menschlichen Gesellschaft 
auch solche der Gemeinde. Die Grenze ist nur ge- 
Gemeinde. 
  
geben mit der tatsächlichen Leistungsfähigkeit. 
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Alles, was die Gemeinde an solchen Aufgaben mit 
ihren Mitteln und auf ihrem Gebiete leisten kann, 
das darf und soll sie leisten. Dem souveränen 
Staate verbleibt zunächst nur eine regelnde Tätig- 
keit, um unter den verschiedenen Gemeinden eine 
für höhere Aufgaben notwendige Einheitlichkeit 
der Entwicklung zu wahren. Sodann fallen dem 
Staate diejenigen Aufgaben zu, welche als beson- 
dere Aufgaben der Gesamtheit im Gegensatz zu 
den einzelnen Gemeinden zu betrachten sind, wie 
die Landesverteidigung, die Landespolizei, das 
Landesverkehrswesen, die höchste Gerichtsbarkeit, 
und in letzter Linie erst diejenigen Aufgaben, 
welche an sich wohl geeignet sind für die Gemeinde, 
aber über deren Leistungsfähigkeit hinausgehen. 
Staatsrechtlich muß natürlich im Zweifel die Be- 
stimmung der Grenze dem souveränen Staate zu- 
stehen, wie sehr auch häufig die Grenzziehung 
im Einzelfalle der politischen Kritik Angriffspunkte 
ietet. 
Die griechischen Staaten des klassischen 
Altertums, sowohl in Europa wie in Kleinasien, 
waren durchweg nur erweiterte Gemeinden. Die 
Verfassungen des Solon und Lykurg waren Ge- 
meindeverfassungen und schon ihren Grundge- 
danken nach nicht auf größere Staatswesen anwend- 
bar. Dasselbe gilt von den ältesten Einrichtungen 
Roms. Sobald sich jedoch Rom mit der Aus- 
dehnung seines Gebietes zu einem Großstaat 
herausbildete, entwickelte sich gleichzeitig und in 
steigendem Maße eine Selbständigkeit der Ge- 
meinde. Den eroberten Städten wurde eine gewisse 
Selbständigkeit gelassen, den in die neu erworbenen 
Gebiete ausgesandten Kolonien bald eine größere 
Unabhängigkeit gewährt. Im späteren römischen 
Staate hatten alle Provinzialstädte, vornehmlich 
aber die municipia, eine ziemlich weit begrenzte 
gemeindliche Selbständigkeit. Die letzteren standen 
unter einem corpus oder collegium decurionum, 
welche als magistratus municipales bie öffent- 
lichen Gelder verwalteten und eigene ausführende 
Organe in den duumviri hatten. Neben diesen 
bestanden gemeindliche aediles für die Sicherheit 
des Straßen= und Marktverkehrs. Man unter- 
schied die Gemeindeämter in honores, welche die 
Ausübung einer öffentlichen Gewalt in sich be- 
griffen, und munera, d. h. die Wahrnehmung der 
wirtschaftlichen Aufgaben der Gemeinde, welche 
von den einzelnen Gemeindemitgliedern unentgelt- 
lich zu übernehmen waren. Es gab ein besonderes 
ins originis, d. h. ein Bürgerrecht in der Hei- 
matsgemeinde, neben welchem das allgemeine 
Bürgerrecht für alle römischen Bürger in der 
Stadt Rom bestehen blieb. 
Klarer und ausgeprägter gestaltete sich die 
Selbständigkeit der Gemeinden im germanischen 
Mittelalter. Die heidnische Auffassung, wo- 
nach die Persönlichkeit gegenüber dem Staate 
rechtlos ist, wurde überwunden durch die christliche 
Auffassung von den ethischen Grenzen der Staats- 
gewalt und ersetzt durch die Erhebung der selbst-
	        
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