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verantwortlichen Persönlichkeit zum Grundpfeiler
der Zivilisation. Diese geistige Befreiung der
Einzelpersönlichkeit kam auch der Gemeinde zu-
gute. Das germanische Mittelalter bedeutet den
Höhepunkt und selbst eine Überspannung der Ge-
meindefreiheit. Viele Städte behauptelen nicht
nur siegreich ihren gemeindlichen Wirkungskreis,
sondern erwarben dazu eine weitgehende Unab-
hängigkeit innerhalb des Staates, die sich in den
freien Städten des deutschen Reiches zur Ausbil-
dung halbsouveräner Stadtstaaten steigerte. Die
der Landeshoheit unterworfen gebliebenen Städte
und die Landgemeinden behielten wenigstens auf
wirtschaftlichem Gebiete eine weitgehende Selb-
ständigkeit. Auf dem Boden dieser Gemeinde-
freiheit bildete sich in dieser Zeit jener echte
Bürgersinn und jene großartige Wirksamkeit der
Städte aus, welche eine der hervorstechendsten Be-
sonderheiten der Kultur des germanischen Mittel-
alters war.
Eine entgegengesetzte Bewegung begann in
Deutschland mit der Ausbildung des Terri-
torialstaates, namentlich seit der Reforma-
tion, in Frankreich schon früher mit der Erstarkung
der Monarchie. Dort benutzten die Territorial=
herren, hier die Könige zunächst die Städte, um
die Macht der großen Vasallen zu brechen, und
begünstigten die städtische Selbständigkeit, solange
sie ihrer zu diesem Zwecke bedurften. Nachdem die
Macht der Vasallen aber gebrochen und der eigenen
zugewachsen war, wandten sie sich auch gegen die
Städte, um sie als unterworfene Glieder ihrem
Territorium einzuverleiben. Namentlich gelang
dieses Vorgehen in den deutschen Territorien,
nicht ganz so vollständig in Frankreich, am wenig-
sten in England, wo eine ausgedehnte Gemeinde-
freiheit ohne wesentliche Unterbrechungen bis auf
den heutigen Tag sich erhalten hat. In den
größeren deutschen Territorien gelang diese Unter-
drückung seit dem Dreißigjährigen Krieg und der
Ausbildung des Polizeistaates so vollständig,
daß von einer Selbständigkeit der Gemeinden in
keiner Weise mehr geredet werden konnte: die
städtischen Magistrate wurden vom Landesherrn
ernannt, das Eigentum der Gemeinden als Eigen-
tum des Staates, die Gemeindeangelegenheiten
als eine Abteilung der staatlichen innern Polizei,
die Gemeinde lediglich als ein Verwaltungsbezirk
des Staates, ja geradezu als eine Anstalt des
Staates betrachtet.
Am weitesten ging die Bevormundung der Ge-
meinden durch den alles regierenden Staat in
Preußen, wo deshalb auch die Reform zu gesun-
deren Zuständen zuerst sich Bahn brach. Die
Maßregeln des Freiherrn von Stein seit 1808
bilden hier den Wendepunkt. Der aufkommende
Rechtsstaat gab der Gemeinde die ihr gebüh-
rende rechtliche Stellung in ganz Deutschland
wieder. Doch blieb Preußen mit der Lösung der
gemeindlichen Kräfte zu freiem, selbsttätigem
Leben an der Spitze, indem es durch seine Ver-
Gemeinde.
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waltungsreform seit 1872 einen wichtigen Teil
der allgemeinen Landesverwaltung und der Ver-
waltungsgerichtsbarkeit, wie andern kommunalen
Selbstverwaltungskörpern, so auch den für die Er-
füllung dieser Aufgaben genügend großen Städten
als selbständigen Stadtkreisen übertrug. Unter dem
Einfluß dieser Bewegung hat sich auch die Land-
gemeinde aus einer rein wirtschaftlichen Gemein-
schaft emporgearbeitet zu einer öffentlich-rechtlichen
Korporation mit politischen Rechten und politischer
Selbständigkeit.
III. Die Selbständigkeit der heutigen Ge-
meinde in Deutschland und ganz ähnlich in
Osterreich-Ungarn findet ihren Ausdruck zunächst
darin, daß die Gemeinde anerkannt ist als eine
juristische Person sowohl auf dem Gebiete des
bürgerlichen wie auf dem des öffentlichen Rechts.
Als juristische Person des bürgerlichen Rechts ist
die Gemeinde selbständige Trägerin von Ver-
mögensrechten und berechtigt zur selbständigen
Verwaltung ihres Vermögens sie hat die Fähig-
keit, alle Arten privater Rechtsbefugnisse durch ihre
Organe auszuüben und im Prozeßwege zu ver-
solgen. Als juristische Person des öffentlichen
Rechts hat sie die Fähigkeit, Trägerin von öffent-
lichen Rechten und Befugnissen zu sein; sie hat
das Recht, innerhalb der gesetzlichen Grenzen sich
selbst eine Verfassung zu geben und sie abzuändern;
sie hat das Recht der eigenen Wahl und Anstellung
ihrer Beamten und der eigenen Besorgung ihrer
öffentlichen Angelegenheiten; sie ist als solche so-
dann Inhaberin eines Herrschaftsrechts über ihre
Bürger und ihr Gebiet, eine wahre Obrigkeit, der
die Bürger ebenso unterworfen sind wie der staat-
lichen Obrigkeit. In letzterer Eigenschaft hat sie
das Recht, bindende Vorschriften zur Ordnung.
des Gemeindelebens zu geben, ihre Mitglieder zur
Besorgung der Gemeindeangelegenheiten heran-
zuziehen und die Kosten zur Befriedigung ihrer
Aufgaben von ihren Mitgliedern zu erheben.
Endlich hat sie die Ortspolizei, in der Ausdeh-
nung, wie das preuß. Allgem. Landrecht in TI II,
Titel 17. § 10 sie ganz richtig bestimmt, also die
selbständige Sorge „für die Erhaltung der öffent-
lichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und die
Abwendung der dem Publico oder einzelnen Mit-
gliedern desselben bevorstehenden Gefahren“. Den
Kreis dieser Rechte pflegt man zusammenzufassen
mit dem Ausdruck: Selbstverwaltung der Ge-
meinde. Es widerspricht diesen Grundsätzen, wenn
die Gemeindebeamten als „mittelbare Staats-
beamte“ behandelt werden oder die Ortspolizei,
wie in manchen Städten Preußens, durch könig-
liche Beamte verwaltet wird.
Alle diese Rechte hat die Gemeinde in ihrer
Ausübung jedoch nur unter einer geordneten
Aufsicht des Staates. Diese findet ihre for-
melle Begründung darin, daß die Gemeinde als
ein organisches Glied des Staates der Oberhoheit
desselben unterworfen ist, und ihre materielle
Rechtfertigung darin, daß der Staat als Ganzes