455
gebildete Unterabteilungen des Staates mit einer
gewissen Selbstverwaltung, welche sich in der
Regel über mehrere Ortsgemeinden ausdehnen.
Sie haben ihren Berührungspunkt mit den Orts-
gemeinden darin, daß ihnen Aufgaben übertragen
sind, welche als ursprüngliche und wesentliche Ge-
meindeaufgaben den Ortsgemeinden zukommen,
aber aus irgend welchen Gründen ihnen entzogen
worden sind.
Auch die Gutsbezirke werden mit Unrecht
zu den Gemeinden gerechnet. Sie beruhen zwar
auf dem unmittelbaren nachbarlichen Zusammen-
wohnen und dehnen sich regelmäßig nicht weiter
aus als über die Größe des Gebietes einer ge-
wöhnlichen Ortsgemeinde. Aber der Umstand,
daß der ganze Gutsbezirk oder wenigstens der
ausschlaggebende Teil desselben regelmäßig nur
einem Grundherrn gehört, und daß alle sonstigen
Zugehörigen desselben in ihrer gesamten wirt-
schaftlichen Existenz von diesem abzuhängen pflegen,
verhindert eine Gemeinsamkeit der Bestrebungen,
wie sie sich in der Ortsgemeinde wesentlich auf der
Gleichheit oder Gleichartigkeit der Interessen einer
Anzahl Gleichgestellter aufbaut. Die Verfassung
des Gutsbezirkes ist, wo sie richtig verstanden
wird, von Natur eine patriarchalische, wo sie miß-
braucht wird, eine autokratische, während die Ver-
fassung einer Ortsgemeinde nur republikanisch zu
sein pflegt. Wenn vielfach die Ordnung dieser
Gutsbezirke in den Gemeindeordnungen zusammen
mit den Bestimmungen über die Ortsgemeinden
getroffen worden ist, so beruht diese gemeinschaft-
liche Behandlung beider Gebilde nur auf einer
ganz äußerlichen Ahnlichkeit in Bezug auf die all-
gemeine Landesverwaltung.
Aus einem andern Grunde sind die sog. Spe-
zialgemeinden nicht zu den eigentlichen Ge-
meinden zu rechnen, wie die Schul-, Wege-,
Deichgemeinden in Deutschland, Armenpflege-
und viele andere derartige Korporationen in Eng-
land. Ihre Obliegenheiten betreffen Angelegen-
heiten der Gemeinden; aber sie bestehen aus einem
abgesonderten Interessentenkreis, der sich mit dem
Kreise der Ortsgemeinde nicht deckt, sondern sich
über mehrere Ortsgemeinden erstrecken kann oder
auch nur einen Teil der Mitglieder der Orts-
gemeinde umfaßt. Ihre Bildung ist allemal in
höherem oder geringerem Maße willkürlich. Be-
sondere Verhältnisse können sie im einzelnen Falle
notwendig und berechtigt machen. In weiterem
Maße können sie jedoch nur dort vorkommen, wo
der Begriff der Ortsgemeinde nicht richtig ge-
würdigt wird, oder wo diese ihren Beruf nicht
genügend versieht. Die Uberantwortung des Volks-
schulwesens an besondere Schulgemeinden imganzen
Osten von Preußen hat sich längst als ein Übel-
stand fühlbar gemacht. Abhilfe ist in weitem
Maße erfolgt durch das Gesetz vom 28. Juli 1906
betreffend die Unterhaltung der öffentlichen Volks-
schulen. — Eine besondere Art von Spezial=
gemeinden sind die Realgemeinden, die
Gemeinde.
456
Genossenschaften der Altbürger, Markgenossen,
Waldbeerbten usw. in denjenigen Gemeinden, wo
sich neben der ursprünglichen Wirtschaftsgemeinde,
deren Mitglieder als solche an der gemeinschaft-
lichen Feld= und Waldmark berechtigt waren, zu-
erst eine Anzahl nicht berechtigter Ausmärker an-
siedelten, die sich dann für alle die Mark nicht
betreffenden Gemeindeangelegenheiten mit den Alt-
bürgern zu einer Ortsgemeinde zusammenschlossen,
innerhalb deren dann die Genossenschaft der Alt-
bürger für die Ausnutzung der Mark als Real-
gemeinde (Nutzungsgemeinde) fortbestand.
Wie schon angedeutet, entspricht in Deutsch-
land die Stellung der Gemeinde im Staatswesen
keineswegs schon überall denjenigen Anforderun-
gen, welche die Gemeinde erheben kann. Wenn
das Staatswesen sowohl theoretisch wie praktisch
einen großen Aufschwung genommen hat, wenn
die gesetzgeberischen Ordnungen des Staates so-
wohl wie seine tatsächlichen Leistungen innerhalb
dieser Ordnungen große Fortschritte gemacht haben,
so entspricht der Fortschritt auf dem Gebiete der
Gemeinden keineswegs denjenigen auf dem Ge-
biete des Staates. Zwar haben auch die Gemein-
den sich innerlich gekräftigt und zusammengeschlos-
sen; ihre wirtschaftlichen Erfolge sind sogar stellen-
weise gewaltig; aber die Besserung ihrer recht-
lichen Stellung im Staate ist diesen Fortschritten
nicht genügend nachgekommen. Namentlich in
Preußen müssen die Gemeinden sich noch mit ver-
alteten Gemeindeordnungen behelsen, während
andere deutsche Staaten, so Bayern, hierin vor-
aus sind. Da jedoch die Strömung der Zeit auf
eine größere Selbständigkeit oder wenigstens bes-
sere Ordnung der Gemeinde im Staate mit Macht
hindrängt, so ist zu erwarten, daß in baldiger
Zeit das Versäumte hier wird nachgeholt werden.
Auf politischem Gebiet werden die Gemeinden,
wo neue Gemeindeordnungen in Frage kommen,
mit Fug und Recht nach einer größeren Selb-
ständigkeit streben, wie sie ihrer inneren Erstar-
kung und heutigen wirklichen Bedeutung entspricht.
Die Gemeinde ist die älteste, natürlichste und
festeste aller staatlichen Bildungen. In ihr und
auf sie konzentriert sich der größte Teil alles staat-
lichen Wirkens und Strebens. Für den größten
Teil aller Staatsbürger ist sie dazu der einzige
Boden staatlicher Betätigung, weil der Gesichts-
kreis derselben nicht ausreicht, um die höheren
Aufgaben des Staates zu erfassen. Dieses Ver-
hältnis ist ein natürliches und in der menschlichen
Natur tief begründetes. Aus ihm folgt, daß der
sog. Lokalpatriotismus neben dem staatlichen Pa-
triotismus eine berechtigte Stelle und eine selb-
ständige Bedeutung hat. Ein richtig verstandener,
vernünftig begrenzter und gesund entwickelter Lo-
kalpatriotismus hält die richtige Mitte zwischen
einer engherzigen Kirchturmspolitik und einem
nivellierenden Aufgehen im abstrakten Staats-
gedanken. Nur er kann die Gemeinde auf die
Höhe ihrer sozialen Aufgabe heben. Da ein frucht-