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bares Gemeindeleben nur auf dem Boden einer
gesunden Gemeindefreiheit sich entwickeln kann, so
wird das Bedürfnis der Zeit unabweisbar dahin
drängen, diese Gemeindefreiheit weniger knapp zu
bemessen als bisher. Das dem Staate zustehende
Bestätigungsrecht bei der Wahl der Gemeinde-
vorstände darf nicht in einseitiger und engherziger
Weise gehandhabt werden. Man wird für die
Zukunft auf eine bessere Ordnung dieses Mit-
wirkungsrechts hinwirken müssen. Insbesondere
wird in Preußen, wo Provinzen und Kreisen
durch die Verwaltungsreform seit 1872 eine er-
hebliche Ausdehnung ihrer Selbständigkeit ein-
geräumt worden ist, die Konsequenz der staat-
lichen Entwicklung auch den Gemeinden gegenüber
zur Gewährung größerer Selbständigkeit führen
müssen. Die neuen Gemeindeordnungen, welche
die durchaus veralteten und überlebten Gemeinde-
ordnungen aus der Mitte des vorigen Jahr-
hunderts zu ersetzen haben, werden nicht umhin
können, die Aussichts= und Genehmigungsrechte
des Staates zu beschränken und die Befugnis der
Nichtbestätigung der gewählten Gemeindeorgane
an feste Bedingungen zu knüpfen. Die Pflege und
Fortbildung eines gesunden Gemeindelebens ge-
hört mit zu den großen sozialen Aufgaben der
Gegenwart.
VIII. Die Kirchliche Gemeinde. Eine Pfarr-
gemeinde ist nach katholischer Auffassung der
Kreis derjenigen Gläubigen, welche durch den
Bischof für die Besorgung ihrer religiösen Be-
dürfnisse an einen bestimmten Geistlichen, den
Pfarrer (s. d. Art.), verwiesen sind. Dieser Kreis
ist regelmäßig bestimmt durch ein örtlich begrenztes
Gebiet, so daß zu einer Pfarrgemeinde diejenigen
Gläubigen gehören, welche in einem bestimmten
Bezirk, der Pfarre, wohnen. Das kirchliche Recht
kennt allerdings als Ausnahmen auch Pfarr-
gemeinden, zu denen nur die Mitglieder eines nach
persönlichen Momenten bestimmten Kreises ge-
hören, wie die Mitglieder einer bestimmten Fa-
milie, ferner Anstaltspfarren, Militärpfarren,
Pfarren verschiedener Riten und verschiedener
Nationalitäten auf demselben Gebiet. Die zu
einer Pfarrgemeinde gehörigen Gläubigen sind
gebunden, den Pfarrer innerhalb seiner Kom-
petenz als den unmittelbaren Vertreter des Bi-
schofs in den kirchlichen Funktionen anzuerkennen;
sie sind den kirchlichen Anordnungen desselben
unterworfen und verpflichtet, wegen gewisser kirch-
licher Bedürfnisse (Taufe, Trauung, österliche
Kommunion usw.) nur an ihn sich zu wenden.
Diesen Pflichten entsprechen Rechte, aber nur
Rechte der Einzelnen, nicht Rechte der Gesamtheit
der Pfarreingesessenen. Die Pfarrgemeinde ist
daher, anders als die Ortsgemeinde, nach dem
kanonischen Recht nur ein kirchlicher Verwaltungs-
bezirk von rein passiver Bedeutung. Sie ist nicht
eine Korporation, nicht organisiert und nicht
handlungsfähig. Sie ist vor allem nicht Subjekt
des kirchlichen Vermögens der Pfarre. Den Pfarr-
Gemeinde.
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eingesessenen als solchen steht eine Mitwirkung bei
der Verwaltung des kirchlichen Vermögens grund-
sätzlich nicht zu, wenn sich auch historisch und
partikularrechtlich vielfache Aufsichts= und Mit-
verwaltungsrechte von einzelnen Laien und Ge-
meinden (als Patrone, auf Grund von Stiftungs-
urkunden usw.) entwickelt haben.
Entgegen diesen Grundsätzen hat in neuerer
Zeit der Staat vielfach in die Rechte der Kirche
an ihrem Vermögen in der Weise eingegriffen,
daß er grundsätzlich den Pfarreingesessenen ein
Mitverwaltungsrecht zuschrieb oder sogar denselben
allein die Verwaltung und Verfügung übertrug.
Zu diesem Zwecke wurde dann die kirchliche Pfarre
vom weltlichen Recht als Korporation konstituiert.
Soweit die Kirche die bezügliche staatliche Gesetz-
gebung stillschweigend oder ausdrücklich anerkannt
hat, wie z. B. in Preußen gegenüber dem Gesetz
vom 20. Juni 1875, ist für das bürgerliche Recht
die Pfarrgemeinde als juristische Person und als
die Inhaberin des kirchlichen Pfarrvermögens zu
betrachten. Der Kirche gegenüber aber hat ihre
Vertretung lediglich zu handeln als Organ der
Kirche, welches die Rechte der Kirche am Pfarr-
vermögen ausübt. Wenn hie und da die staatliche
Gesetzgebung der katholischen Pfarrgemeinde noch
sonstige Rechte beilegt, so verstößt sie nur zu häufig
gegen das kirchliche Recht. So war während des
Kulturkampfes (s. d. Art.) in Preußen den Pfarr-
gemeinden die Bestellung des Pfarrers oder eines
Vertreters für denselben übertragen für den Fall,
daß der Bischof einen Pfarrer nicht ernannte (Ge-
setze vom 20. und 21. Mai 1874). Die Kirche
hat diesen Bestimmungen den schärfsten Wider-
stand entgegengesetzt. Eine Pfarrerwahl auf Grund
dieses Gesetzes ist trotz der äußerst leichten Be-
dingungen (Antrag von nur 10 Mitgliedern der
Pfarre usw.) niemals zustande gekommen. Durch
die Novellen vom 31. Mai 1882 und 29. April
1887 wurden dann diese Bestimmungen wieder
aufgehoben. In der Schweiz dagegen bestehen noch
ähnliche Bestimmungen auf Grund kirchenfeind-
licher Gesetzgebungen in Kraft; so in vielen Kan-
tonen Wahl der Pfarrer durch die Gemeinden,
Wiederwahl oder Bestätigung derselben nach je
sechs Jahren, in Zürich sogar das Recht der
Pfarrgemeinden, ihre kirchlichen Angelegenheiten,
soweit sie örtlicher Natur sind, selbst zu ordnen,
sowie das Recht zur Festsetzung der gottesdienst-
lichen Einrichtungen.
Nach protestantischer Auffassung kommt der
kirchlichen Gemeinde aus sich selbst eine eigene
Selbständigkeit zu. Diese Auffassung ist am
schärfsten durchgeführt in der reformierten Kirche,
minder scharf, wenigstens vielfach in der Praxis,
in vielen lutherischen Landeskirchen. Danach ist
die Pfarrgemeinde Inhaberin des Pfarrvermö-
gens; sie hat das Recht der Pfarrerwahl oder
wenigstens einer Mitwirkung bei derselben, das
Recht der Mitwirkung beim Kirchenregiment und
bei der Seelsorge. In Preußen war dieser Auf-