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ist heute noch geknüpft an die Staatsangehörigkeit.
Dochgehteine berechtigte Strömung dahin, in allen
Bundesstaaten des Deutschen Reiches die Reichsan-
gehörigkeit als genügend zu erklären, und zwar für
den Erwerb aller Stufen des Gemeindebürgerrechts.
Aus dieser Klasse hebt sich regelmäßig eine be-
sondere Klasse der eigentlichen Vollbürger
hervor, welche Anteil an der Verwaltung der Ge-
meinde haben, also an dem Selbstbestimmungs-
recht der Gemeinde und der Bildung des Ge-
meindewillens teilnehmen. Sie besitzen das aktive
und passive Wahlrecht zu den Gemeindeämtern
und der Gemeindevertretung, oder auch direkten
Anteil an der Bildung des Korporationswillens
der Gemeinde. Für dieses Recht werden nach den
Gemeindeordnungen regelmäßig männliches Ge-
schlecht, ein gewisses Alter, Selbständigkeit, häufig
auch Unbescholtenheit und gewisse vermögensrecht-
liche Eigenschaften verlangt. Es kann meist nur
Vollbürger sein, wer keine öffentliche Armenunter-
stützung von der Gemeinde verlangt, mit der Be-
zahlung der Gemeindeabgaben nicht im Rückstande
ist und außerdem Grundbesitz in der Gemeinde
hat oder einen bestimmten Steuersatz bezahlt. Viel-
sach ist der Erwerb des Vollbürgerrechts abhängig
gemacht von der Zahlung eines Bürgerrechts-
geldes. Das aktive Wahlrecht ist häufig nach Maß-
gabe der Steuerleistung abgestuft. Reichsgesetzlich
ruht es während eines Konkurses oder einer straf-
gerichtlichen Untersuchung wegen eines Verbrechens.
Reichsgesetzlich ist ferner das passive Wahlrecht an
eine bestimmte strafrechtliche Unbescholtenheit ge-
knüpft. (Vgl. R. St. G. B. § 31 ff.) Vielfach ist das
passive Wahlrecht ausgeschlossen für Polizeibeamte,
Richter, Staatsanwälte, Geistliche, Lehrer an
öffentlichen Volksschulen usw. Eine besondere Art
dieses Vollbürgerrechts ist das Ehren bürgerrecht,
das nach vielen Gemeindeordnungen einzelnen
Mitgliedern der Gemeinde oder andern Staats-
angehörigen aus Dankbarkeit oder zur Anerken-
nung besonderer Verdienste durch Beschluß der
Gemeindevertretung verliehen werden kann. Die
Ehrenbürger gehören meist zur bevorzugtesten
Klasse der Vollbürger, sind wahlberechtigt, aber
nicht steuerpflichtig. Zuweilen, z. B. in Bayern,
gewährt das Ehrenbürgerrecht weder Rechte noch
Pflichten und ist dann eine bloße Form. Beson-
ders zu nennen sind die Forensen, d. h. Ge-
meindebürger, welche in der Gemeinde keinen
Wohnsitz. wohl aber Grundbesitz, eine Handels-
niederlassung oder einen Gewerbebetrieb haben;
sie sind regelmäßig für diese Vermögensstücke in
der Gemeinde steuerpflichtig und haben dagegen
häufig das aktive und passive Wahlrecht zu den
Vertretungskörpern der Gemeinde. Endlich ist zu
erwähnen, daß vielfach den juristischen Per-
sonen, welche im Gemeindebezirk ansässig sind
(Mtiengesellschaften, Gewerkschaften usw.) und dort
Gemeindesteuern zahlen, ein Wahlrecht in der Ge-
meinde eingeräumt ist, welches sie durch ihre Vor-
steher ausüben können.
Gemeindebürger.
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Eine besondere Besprechung erfordert die häufig
vorkommende Anknüpfung des Gemeinde wahl-
rechts an eine bestimmte Steuerleistung, der
sog. Zensus, und weiter die Abstufung des-
selben Wahlrechts nach Vermögensklassen. Diese
Einrichtung ist in Deutschland in der verschie-
densten Weise geschehen. Nach der preußischen
Städteordnung für die östlichen Provinzen vom
30. Mai 1853 war das Wahlrecht geknüpft an
den Besitz eines Wohnhauses oder eines stehenden
Gewerbes oder die Zahlung eines Klassensteuer-
satzes von vier Talern. Dieser Satz war durch
Gesetz vom 25. Mai'1873 auf 6 M herabge-
setzt worden, konnte aber durch Ortsstatut bis
auf 36 M erhöht werden. Tatsächlich blieb der-
selbe überall 6 M. Nach der preußischen Land-
gemeindeverfassung für die östlichen Provinzen
vom 14. April 1856 wird die Bestimmung des
Gemeindewahlrechts den Ortsstatuten überlassen
und für dieses nur als Minimum der Besitz eines
eigenen Hausstandes und eines Wohnhauses ver-
langt. Nach der rheinischen Städteordnung vom
15. Mai 1856 ist das Wahlrecht verbunden mit
dem Besitze eines Hauses; im übrigen kann es
durch Beschluß der Gemeindevertretung geknüpft
werden an einen Grund= und Gebändesteuersatz
von 12 bis 30 M oder einen Klassensteuersatz von
6 bis 36 M. Tatsächlich war dieser meist 6 M,
in mehreren Städten 12, in einigen wenigen 18 M.
Nach der rheinischen Landgemeindeordnung vom
23. Juli 1845 ist das Wahlrecht geknüpft an den
Besitz eines Wohnhauses und einen Satz von 6 M
Grund= und Gebäudesteuer oder von 6 M Klassen-
steuer. In den Städten wird dazu in ganz Preu-
ßen die Gesamtzahl der Wähler nach der Gesamt-
summe des Steueraufkommens in drei Klassen ge-
teilt, und zwar so, daß diejenigen Wähler, welche
je ein Drittel dieser Gesamtsumme aufbringen,
für sich eine Klasse bilden und ein Drittel der Ge-
meindevertretung wählen. Als die Steuerreform
von 1891 die Angehörigen der untersten Klassen-
steuerstufen entlastete, verordnete 8 77 des Ein-
kommensteuergesetzes vom 24. Juni 1891, um
deren Wahlrecht ungeschmälert zu erhalten, daß
an die Stelle des Steuersatzes von 6 KM alten
Tarifs als Begrenzung des Wahlrechts der Steuer-
satz von 4 M neuen Tarifs treten, und daß dort,
wo ortsstatutarisch ein höherer Zensus festgesetzt
werden kann, der Steuersatz von 6 M allgemein
als Begrenzung nach unten gelten solle. Der pluto-
kratischen Zuspitzung des Wahlsystems wurde jedoch
durch diese Bestimmung nur sehr ungenügend ent-
gegengewirkt; die Zahl der Wähler der beiden
obersten Wählerabteilungen nahm stetig ab, die
Zahl der Wähler der untersten Wählerabteilung
wuchs zu unerträglicher Ausdehnung. Eine weitere,
aber auch noch sehr ungenügende Gegenwirkung
brachte das Gesetz vom 30. Juni 1900, indem es
bestimmte, daß in den Städten über 10 000 Ein-
wohner jeder Wähler, dessen Steuerbetrag den
Durchschnitt der auf den einzelnen Wähler treffen-