Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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ist heute noch geknüpft an die Staatsangehörigkeit. 
Dochgehteine berechtigte Strömung dahin, in allen 
Bundesstaaten des Deutschen Reiches die Reichsan- 
gehörigkeit als genügend zu erklären, und zwar für 
den Erwerb aller Stufen des Gemeindebürgerrechts. 
Aus dieser Klasse hebt sich regelmäßig eine be- 
sondere Klasse der eigentlichen Vollbürger 
hervor, welche Anteil an der Verwaltung der Ge- 
meinde haben, also an dem Selbstbestimmungs- 
recht der Gemeinde und der Bildung des Ge- 
meindewillens teilnehmen. Sie besitzen das aktive 
und passive Wahlrecht zu den Gemeindeämtern 
und der Gemeindevertretung, oder auch direkten 
Anteil an der Bildung des Korporationswillens 
der Gemeinde. Für dieses Recht werden nach den 
Gemeindeordnungen regelmäßig männliches Ge- 
schlecht, ein gewisses Alter, Selbständigkeit, häufig 
auch Unbescholtenheit und gewisse vermögensrecht- 
liche Eigenschaften verlangt. Es kann meist nur 
Vollbürger sein, wer keine öffentliche Armenunter- 
stützung von der Gemeinde verlangt, mit der Be- 
zahlung der Gemeindeabgaben nicht im Rückstande 
ist und außerdem Grundbesitz in der Gemeinde 
hat oder einen bestimmten Steuersatz bezahlt. Viel- 
sach ist der Erwerb des Vollbürgerrechts abhängig 
gemacht von der Zahlung eines Bürgerrechts- 
geldes. Das aktive Wahlrecht ist häufig nach Maß- 
gabe der Steuerleistung abgestuft. Reichsgesetzlich 
ruht es während eines Konkurses oder einer straf- 
gerichtlichen Untersuchung wegen eines Verbrechens. 
Reichsgesetzlich ist ferner das passive Wahlrecht an 
eine bestimmte strafrechtliche Unbescholtenheit ge- 
knüpft. (Vgl. R. St. G. B. § 31 ff.) Vielfach ist das 
passive Wahlrecht ausgeschlossen für Polizeibeamte, 
Richter, Staatsanwälte, Geistliche, Lehrer an 
öffentlichen Volksschulen usw. Eine besondere Art 
dieses Vollbürgerrechts ist das Ehren bürgerrecht, 
das nach vielen Gemeindeordnungen einzelnen 
Mitgliedern der Gemeinde oder andern Staats- 
angehörigen aus Dankbarkeit oder zur Anerken- 
nung besonderer Verdienste durch Beschluß der 
Gemeindevertretung verliehen werden kann. Die 
Ehrenbürger gehören meist zur bevorzugtesten 
Klasse der Vollbürger, sind wahlberechtigt, aber 
nicht steuerpflichtig. Zuweilen, z. B. in Bayern, 
gewährt das Ehrenbürgerrecht weder Rechte noch 
Pflichten und ist dann eine bloße Form. Beson- 
ders zu nennen sind die Forensen, d. h. Ge- 
meindebürger, welche in der Gemeinde keinen 
Wohnsitz. wohl aber Grundbesitz, eine Handels- 
niederlassung oder einen Gewerbebetrieb haben; 
sie sind regelmäßig für diese Vermögensstücke in 
der Gemeinde steuerpflichtig und haben dagegen 
häufig das aktive und passive Wahlrecht zu den 
Vertretungskörpern der Gemeinde. Endlich ist zu 
erwähnen, daß vielfach den juristischen Per- 
sonen, welche im Gemeindebezirk ansässig sind 
(Mtiengesellschaften, Gewerkschaften usw.) und dort 
Gemeindesteuern zahlen, ein Wahlrecht in der Ge- 
meinde eingeräumt ist, welches sie durch ihre Vor- 
steher ausüben können. 
Gemeindebürger. 
  
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Eine besondere Besprechung erfordert die häufig 
vorkommende Anknüpfung des Gemeinde wahl- 
rechts an eine bestimmte Steuerleistung, der 
sog. Zensus, und weiter die Abstufung des- 
selben Wahlrechts nach Vermögensklassen. Diese 
Einrichtung ist in Deutschland in der verschie- 
densten Weise geschehen. Nach der preußischen 
Städteordnung für die östlichen Provinzen vom 
30. Mai 1853 war das Wahlrecht geknüpft an 
den Besitz eines Wohnhauses oder eines stehenden 
Gewerbes oder die Zahlung eines Klassensteuer- 
satzes von vier Talern. Dieser Satz war durch 
Gesetz vom 25. Mai'1873 auf 6 M herabge- 
setzt worden, konnte aber durch Ortsstatut bis 
auf 36 M erhöht werden. Tatsächlich blieb der- 
selbe überall 6 M. Nach der preußischen Land- 
gemeindeverfassung für die östlichen Provinzen 
vom 14. April 1856 wird die Bestimmung des 
Gemeindewahlrechts den Ortsstatuten überlassen 
und für dieses nur als Minimum der Besitz eines 
eigenen Hausstandes und eines Wohnhauses ver- 
langt. Nach der rheinischen Städteordnung vom 
15. Mai 1856 ist das Wahlrecht verbunden mit 
dem Besitze eines Hauses; im übrigen kann es 
durch Beschluß der Gemeindevertretung geknüpft 
werden an einen Grund= und Gebändesteuersatz 
von 12 bis 30 M oder einen Klassensteuersatz von 
6 bis 36 M. Tatsächlich war dieser meist 6 M, 
in mehreren Städten 12, in einigen wenigen 18 M. 
Nach der rheinischen Landgemeindeordnung vom 
23. Juli 1845 ist das Wahlrecht geknüpft an den 
Besitz eines Wohnhauses und einen Satz von 6 M 
Grund= und Gebäudesteuer oder von 6 M Klassen- 
steuer. In den Städten wird dazu in ganz Preu- 
ßen die Gesamtzahl der Wähler nach der Gesamt- 
summe des Steueraufkommens in drei Klassen ge- 
teilt, und zwar so, daß diejenigen Wähler, welche 
je ein Drittel dieser Gesamtsumme aufbringen, 
für sich eine Klasse bilden und ein Drittel der Ge- 
meindevertretung wählen. Als die Steuerreform 
von 1891 die Angehörigen der untersten Klassen- 
steuerstufen entlastete, verordnete 8 77 des Ein- 
kommensteuergesetzes vom 24. Juni 1891, um 
deren Wahlrecht ungeschmälert zu erhalten, daß 
an die Stelle des Steuersatzes von 6 KM alten 
Tarifs als Begrenzung des Wahlrechts der Steuer- 
satz von 4 M neuen Tarifs treten, und daß dort, 
wo ortsstatutarisch ein höherer Zensus festgesetzt 
werden kann, der Steuersatz von 6 M allgemein 
als Begrenzung nach unten gelten solle. Der pluto- 
kratischen Zuspitzung des Wahlsystems wurde jedoch 
durch diese Bestimmung nur sehr ungenügend ent- 
gegengewirkt; die Zahl der Wähler der beiden 
obersten Wählerabteilungen nahm stetig ab, die 
Zahl der Wähler der untersten Wählerabteilung 
wuchs zu unerträglicher Ausdehnung. Eine weitere, 
aber auch noch sehr ungenügende Gegenwirkung 
brachte das Gesetz vom 30. Juni 1900, indem es 
bestimmte, daß in den Städten über 10 000 Ein- 
wohner jeder Wähler, dessen Steuerbetrag den 
Durchschnitt der auf den einzelnen Wähler treffen-
	        
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