Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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lichen Teil der damaligen Monarchie paßte. Den 
entscheidenden Wendepunkt für die Entwicklung in 
Preußen und in der Folge auch in ganz Deutsch- 
land bildet die Städteordnung des Ministers 
Freiherrn v. Stein vom 19. Nov. 1808. Dieselbe 
befreite zuerst die Städte aus ihrer Herabsetzung 
zu staatlichen Verwaltungsbezirken, erkannte ihre 
kommunale Selbständigkeit grundsätzlich an und 
zog zur Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten 
die freie Selbsttätigkeit der Bürger heran. Sie 
beruhte auf einer Funktionsteilung zwischen einer 
beschließenden Stadtverordnetenversammlung und 
einem ausführenden, aus mehreren Mitgliedern 
bestehenden kollegialischen Magistrat. Ihr Fehler 
bestand darin, daß sie den Kreis der freien kom- 
munalen Tätigkeit sofort wohl zu groß zog und 
damit den Übergang von der früheren Gebunden- 
heit zur neuen Freiheit zu unvermittelt bewerk- 
stelligte; dies führte in der Praxis zu Schwierig- 
keiten, die sich jedoch im Laufe der Zeit ebneten. 
Auf die 1815 neu erworbenen bzw. zurückerwor- 
benen alten Gebiete wurde sie nicht ausgedehnt. 
Neuvorpommern, wo sich unter schwedischer Herr- 
schaft eine ziemlich weitgehende Städtefreiheit er- 
halten hatte, und ebenso die westlichen Landesteile 
behielten ihre städtischen Rechte, wie sie sowohl im 
Rheinland als in Westfalen auf der französischen 
Gemeindeverfassung bzw. ihren im Königreich 
Westfalen und im Großherzogtum Berg erlassenen 
Nachbildungen beruhten. Am 17. März 1831 
wurde eine revidierte Städteordnung publiziert, 
welche für den ganzen Bereich des damaligen 
preußischen Staates passen sollte, übrigens aber 
in Neuvorpommern gar nicht und im Rheinland 
nur vereinzelt eingeführt wurde. Für die Rhein- 
provinz wurde am 23. Juli 1845 eine gemeinsame 
Gemeindeordnung für Stadt und Land im An- 
schluß an die bestehenden Zustände erlassen, nach- 
dem schon am 3. Okt. 1841 eine Landgemeinde- 
ordnung für Westfalen erlassen worden war. 
Einen neuen Anstoß zur Reglung der gemeind- 
lichen Verhältnisse brachte das Jahr 1848. Mit 
der Gemeindeordnung und dem Polizeiverwal= 
tungsgesetz vom 11. Mai 1850 wurde zunächst 
nochmals der vergebliche Versuch einer für Stadt 
und Land zugleich geltenden Gemeindeordnung 
gemacht. Es folgten dann die nachstehenden, bis 
heute in Kraft gebliebenen Gesetze: die Städte- 
ordnung vom 30. Mai 1853 für die sechs östlichen 
Provinzen außer Neuvorpommern und Rügen, 
das Gesetz vom 14. April 1856 betreffend die Land- 
gemeindeverfassung in den sechs östlichen Provinzen 
(einschließlich Neuvorpommern und Rügen), die 
Städteordnung und die Landgemeindeordnung für 
die Provinz Westfalen vom 19. März 1856 und 
die Städteordnung für die Rheinprovinz vom 
15. Mai 1856, durch welche die Rheinische Ge- 
meindeordnung vom 23. Juli 1845 zu einer Land- 
gemeindeordnung wurde, als welche sie erhalten 
blieb. Alle diese bestehenden Gemeindeverfassungs- 
gesetze wurden sodann wesentlich abgeändert durch 
  
Gemeindeordnung. 
  
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die sog. Verwaltungsreform seit der Kreisordnung 
vom 13. Dez. 1872. Diese Reform bedingte, in- 
dem sie die Stellung der Gemeinde in Kreis, Re- 
gierungsbezirk und Provinz anders bestimmte, 
zugleich eine Revision der sämtlichen Gemeinde- 
ordnungen. Der Anfang wurde gemacht mit der 
Landgemeindeordnung für die sieben östlichen Pro- 
vinzen vom 3. Juli 1891. Neue Gemeindeord- 
nungen für die übrigen Provinzen der Monarchie 
sind ein dringendes Bedürfnis und sollen folgen, 
lassen aber einstweilen noch auf sich warten; nur 
die Landgemeindeordnung für Schleswig-Holstein 
ist unter dem 4. Juli 1892 bereits Gesetz ge- 
worden. 
Die Land gemeindeordnung für die sieben 
östlichen Provinzen (Ostpreußen, Westpreußen, 
Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien und 
Sachsen) vom 3. Juli 1891, eine genügend ela- 
stische, den ländlichen Verhältnissen des ackerbau- 
treibenden Ostens wohl angepaßte und die freie 
Bewegung der Gemeinden achtende Reglung der 
Gemeindeverhältnisse, erkennt die Landgemeinden 
als öffentliche Körperschaften mit dem Recht der 
Selbstverwaltung an. Sie gestattet denselben 
statutarische Anordnungen über alle Angelegen- 
heiten, hinsichtlich deren das Gesetz Verschieden- 
heiten zuläßt oder auf ortsstatutarische Reglung 
verweist, sowie über solche Angelegenheiten, deren 
Gegenstand nicht durch das Gese, geregelt ist. 
Diese bedürfen der Genehmigung des Kreisaus- 
schusses. 
Angehörige der Landgemeinde sind, mit Aus- 
nahme der nicht angesessenen servisberechtigten 
Militärpersonen des aktiven Dienststandes (eine 
spezisisch preußische, in allen preußischen Ge- 
meindeordnungen wiederkehrende Bestimmung), 
alle diejenigen, welche innerhalb des Gemeinde- 
bezirks einen Wohnsitz haben; sie sind zur Mit- 
benutzung der öffentlichen Einrichtungen und An- 
stalten der Gemeinde berechtigt und zur Teilnahme 
an den Gemeindeabgaben und asten verpflichtet. 
Gemeindeglieder sind alle Gemeindeangehörigen, 
welchen das Gemeinderecht zusteht. Dieses umfaßt 
das Stimmrecht in der Gemeindeversammlung 
oder bei der Wahl der Gemeindevertretung und 
das Recht zur Bekleidung unbesoldeter Gemeinde- 
ämter. Es steht jedem Gemeindeangehörigen zu, 
welcher Angehöriger des Deutschen Reiches ist 
(hier zum erstenmal so, während bisher in allen 
deutschen Gemeindeordnungen die Bedingung der 
Landesangehörigkeit gestellt war), die bürgerlichen 
Ehrenrechte besitzt, seit einem Jahre im Gemeinde- 
bezirk seinen Wohnsitz hat, keine Armenunter- 
stützung aus öffentlichen Mitteln empfängt, seine 
Gemeindeabgaben bezahlt hat, selbständig ist, d. h. 
nach vollendetem 24. Lebensjahre einen eigenen 
Hausstand hat, in der Verwaltung seines Ver- 
Mögens nicht richterlich beschränkt ist und außer- 
dem entweder ein Wohnhaus im Gemeindebezirk 
besitzt oder wenigstens 3 M Grund= und Ge- 
bäudesteuer in der Gemeinde entrichtet oder mit 
 
	        
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