Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

493 
heit ordnet, was z. B. von den Pflichten gilt, 
welche durch die Polizeiordnung, das öffentliche 
Gerichtsverfahren, die Landesverteidigung usw. 
auferlegt werden. Ihren Namen führt diese Ge- 
rechtigkeit von der Beobachtung der menschlichen 
Gesetze, welche zum großen Teil auf das bonum 
commune berechnet sind. Eine Übertretung dieser 
Pflichten beeinträchtigt zwar das allgemeine Wohl, 
aber dieser Schaden wird gewöhnlich in anderer 
Weise gehoben und läßt sich auch nicht so genau 
berechnen, wie dies bei der Restitutionspflicht ge- 
schehen muß. Doch bricht sich bei der heutigen 
Gestaltung der Steuergesetzgebung auch unter den 
Moralisten immer mehr die Überzeugung Bahn, 
daß nicht nur die Steuerpflicht eine Gewissens- 
sache und die Steuerhinterziehung Sünde ist, son- 
dern auch aus der Defraudation die Pflicht der 
gesetzlich normierten Steuernachzahlung erwächst 
(ogl. Fr. Hamm, Zur Grundlegung u. Geschichte 
der Steuermoral [1908] 309 ff). Die iustitia 
distributiva ordnet umgekehrt das Verhältnis 
des bonum commune zu dem einzelnen Mit- 
gliede der Kommunität bei der Verteilung der ge- 
meinsamen Wohltaten und Lasten. Wenn bei der 
kommutativen Gerechtigkeit das arithmetische Ver- 
hältnis, d. h. die strenge Gleichheit der Quantität 
beim Geben und Nehmen, zu beobachten ist, so ist 
für die distributive Gerechtigkeit die geometrische 
Proportion bei der Verteilung der Wohltaten wie 
der Lasten maßgebend. Als eine Unterart der 
iustitia distributiva führt man gewöhnlich die 
sog. Strafgerechtigkeit (iustitia vindicativa) an, 
welche bei der Verhängung von Strafen das rich- 
tige Verhältnis einhält und dem Grade der Schuld 
gewissenhaft Rechnung trägt. Allein man könnte 
sie ebensogut auf die iustitia legalis zurückführen, 
insofern die Bestrafung der Schuldigen im Inter- 
esse des Gemeinwohls geschieht. Weniger passend 
würde man dieselbe der iustitia commutativa 
unterordnen, weil die Berechnung des Verhält- 
nisses zwischen Schuld und Strafe nur nach geo- 
metrischer, nicht arithmetischer Proportion mög- 
lich ist, obschon der Strafrichter im Gewissen ver- 
pflichtet ist, über das gesetzliche Strafmaß nicht 
hinauszugehen. — Vgl. V. Cathrein, Die Kar- 
dinaltugend der Gerechtigkeit und ihr Verhältnis 
zur legalen Gerechtigkeit (Innsbr. Zeitschr. für 
kath. Theologie 1901, 635 ff); A. van Gestel, De 
iustitia et lege civili (Groningen 21896); J. 
Renninger, Die Grundlage christl. Politik (1879). 
3. Objekt der Gerechtigkeit. Das 
nächste Objekt der Gerechtigkeit ist das Recht im 
subjektiven Sinne als Berechtigung, d. h. die ge- 
setzmäßige und unverletzliche, weil von Gott ver- 
liehene Befugnis, irgend ein Gut mit freiem Willen 
und durch äußere erlaubte Handlungen beherrschen, 
gebrauchen oder erstreben zu dürfen, so daß die 
Mitmenschen pflichtmäßig daran nicht hindern 
dürfen oder positiv dazu mitwirken müssen, und 
zwar das eine oder das andere auf eine erzwing- 
bare Weise. In diesem Begriffe ist zunächst die 
Gerechtigkeit. 
  
494 
schon erwähnte Beziehung zu andern näher be- 
stimmt, indem beim Recht auf seiten des Berech- 
tigten das Dürfen oder der erlaubte Gebrauch des 
freien Willens zur Beherrschung eines Gutes, 
und auf seiten des andern die Pflicht, und zwar 
entweder eine negative oder eine affirmative, ob- 
waltet, je nachdem das Recht ein absolutes Persön- 
lichkeits= oder Sachenrecht ist, dem gegenüber alle 
Mitmenschen zum Nichthinderndürfen verpflichtet 
sind, oder ein relatives Obligationenrecht, wie 
z. B. ein Vertragsrecht zwischen bestimmten Per- 
sonen, die zu bestimmten Leistungen verpflichtet 
sind. Ferner ist die Berechtigung als eine gesetz- 
mäßige und von Gott verliehene bezeichnet, weil 
sie nicht etwa durch eine größere physische Gewalt 
gegeben, sondern nach einer vom Gewissen ge- 
billigten und nach einer von Gott unmittelbar oder 
mittelbar aufgestellten Norm dem einzelnen ver- 
liehen wird, welche Norm einen Teil des Sitten- 
gesetzes bildet. Denselben Charakter trägt auch die 
Rechtspflicht auf der andern Seite an sich. Was 
den Zweck der Berechtigung angeht, so handelt es 
sich um die sittliche Ausnutzung irgend eines Gutes, 
so daß das Recht ein um so wichtigeres ist, je 
wertvoller das Gut und in je innigerer Beziehung 
dasselbe zum höchsten Gute steht. Zuletzt ist die 
dem Rechte entsprechende Pflicht auf seiten der 
Mitmenschen als eine erzwingbare bezeichnet wor- 
den, was für die Moral zwar nicht von derselben 
Bedeutung ist wie für die staatliche Ordnung, 
weil die sittliche Erfüllung der Rechtspflicht als 
eine innere Handlung nicht erzwungen werden 
kann. Aber von Bedeutung ist sie dennoch auch für 
die Moral, insofern die Anwendung der Gewalt 
auch von seiten des Berechtigten im Notfalle eine 
erlaubte Handlung ist, weil Gott die Erzwingbar- 
keit mit der Rechtspflicht verbunden hat. Jeden- 
falls ist die Anrufung der staatlichen Gewalt eine 
erlaubte Handlung, um durch dieselbe die äußere 
Vollziehung der Rechtspflicht zu erzwingen, weil 
es eine der Hauptaufgaben des Staates ist, die 
Rechtsordnung durch die ihm von Gott verliehene 
Gewalt aufrecht zu erhalten und durchzusetzen. 
Aus dem Gesagten erhellt nun schon die innige 
Beziehung des Rechts einerseits zur Moral und 
anderseits zum Staate. In ersterer Hinsicht geht 
der Umfang des Rechts nicht weiter als der des 
Erlaubten, und wie dieser Begriff des sittlich Er- 
laubten gehört auch die das Recht ergänzende 
Rechtspflicht dem Gebiete der Moral an. In an- 
derer Hinsicht ist der Staat nicht die Quelle jeg- 
lichen Rechts, wie man in unsern Tagen vielfach 
behauptet. Der Staat ist zwar eine mit Notwendig- 
keit sich bildende Einrichtung in der menschlichen 
Gesellschaft, sobald die Elemente und Voraus- 
setzungen dazu im Volksleben vorhanden sind; er 
ist eine von Gott gewollte und unter Gottes Vor- 
sehung sich gestaltende Institution. Er besitzt zwar 
von Gott die Autorität, die gesetzgebende, richter- 
liche und strafende Gewalt auszuüben, d. h. die im 
Naturrecht gegebenen Rechtsnormen durch pofsitive