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an den Bischof als Schiedsrichter, und die christ-
lich gewordenen Kaiser erkannten diese audientia
episcopalis für den Fall des Kompromisses beider
Parteien an. Dagegen wurde die von Konstantin
den Bischöfen eingeräumte volle bürgerliche Ge-
richtsbarkeit mit nachfolgender Zwangsvollstreckung
seitens der weltlichen Gerichte zwar im Jahre 398
bzw. 408 aufgehoben, aber dann von Justinian
für Klagen der Kleriker untereinander sowie der
Laien gegen Geistliche wieder anerkannt. In den
germanischen Ländern unterstanden alle Rechts-
sachen, welche weltliche Verhältnisse berührten, wie
Eheangelegenheiten, Kirchenvermögensstreitigkeiten
usw., der weltlichen Gerichtsbarkeit. Im Laufe des
Mittelalters aber zog die Kirche neben den res
mere spirituales, welche Glauben und Sitten,
Kultus und Disziplin angehen, sowie allen Rechts-
sachen der Kleriker, auch jene Rechtsstreitigkeiten
vor ihr Forum, welche irgendwie mit geistlichen
Sachen im Zusammenhange standen, die sog. cau-
sae sSpirituali annexae (Patronats= und Bene-
fizialsachen, Ehestreitigkeiten selbst die über das
Ehegut, Testamente, die mit Eid bekräftigten Ver-
träge, Streitigkeiten über kirchliches Vermögen
usw.), ja überhaupt alle Streitigkeiten, bei denen
das Moment der Sünde in Betracht kam, ferner
die piae causae oder milden Stiftungen, die
Rechtssachen der personae miserabiles, der
Armen, Witwen und Waisen, sowie schließlich die
aller Personen, welchen beim weltlichen Richter
Rechtshilfe verweigert wurde. War nun auch diese
weit über die Grenzen zwischen Staat und Kirche
hinausgehende Jurisdiktion der Kirche in den
Tagen der ungenügenden weltlichen Rechtspflege
eine Wohltat für die damalige Gesellschaft, so
mußte seitens des Staates eine Reaktion erfolgen,
sobald dieser zur Besserung seines Gerichtswesens
schritt. Dieser in England bereits im 12. Jahrh.ein-
setzende, langandauernde und wechselvolle Kampf
endete trotz der Forderungen des Tridentinums
für die Kirche mit dem Verluste ihrer Jurisdiktion
in allen res spirituali annexae, bes privilegium
fori und schließlich auch der Ehegerichtsbarkeit,
soweit dieselbe bürgerliche Wirkung zeigt. Dem-
nach haben als Gegenstand der kirchlichen Zivil-
gerichtsbarkeit jetzt nur noch zu gelten: Fragen
des Glaubens, Streitigkeiten über die Sakramente
und die mit diesen zusammenhängenden Verhält-
nisse (z. B. Ehesachen in rein kirchlicher Beziehung),
ferner Streitigkeiten über Errichtung, Veränderung
und Besetzung der Kirchenämter, über die Rechte
der Benefiziaten, die geistlichen Rechte und Pflichten
des Patrons, die kirchlichen Privilegien und Rechte,
die kirchlichen Rechte und Pflichten der Ordens-
leute sowie über die Verwaltung des Kirchen-
vermögens.
Auch die Strafgerichtsbarkeit übte die
Kirche von Anfang an aus. Gemäß Christi Auf-
trag richtet die Kirche über die Sünden, und zwar
in foro interno; insoweit eine Sünde aber auch
nach außen ein Vergehen oder Verbrechen (delic-
Gerichtsbarkeit, kirchliche.
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tum, crimen) bildet, d. h. durch kirchliches oder
bürgerliches Recht mit zeitlicher Strafe bedroht ist,
unterliegt sie der kirchlichen Gerichtsbarkeit auch in
foro externo, die durch Verhängung von Strafen,
es sei denn das Verbrechen geheim geblieben, aus-
geübt wird. Hatten anfänglich die kirchlichen
Strafen rein geistlichen Charakter, bestehend in
der Versagung der Teilnahme am Gottesdienst
oder der Ausstoßung aus der kirchlichen Gemein-
schaft, für Kleriker außerdem in der Absetzung, so
erlangten sie erst mit der Anerkennung der kirch-
lichen Disziplinargewalt über die Gläubigen seitens
des Staates auch bürgerliche Wirkung, indem der
Staat zur Durchführung der Strafen den welt-
lichen Arm zur Verfügung stellte, ja auf einzelne
kirchliche Verbrechen, so Abweichung vom Glauben,
sogar weltliche Strafen setzte. Im Mittelalter dehnte
die Kirche umgekehrt ihre Strafgerichtsbarkeit auch
auf das weltliche Gebiet aus. Vor allem setzt sie
das privilegium fori durch; sodann urteilt sie
durch die Sendgerichte außer über die delicta
mere ecclesiastica, welche sich gegen Glauben
und Disziplin richten, wie Häresie, Schisma, Apo-
stasie der Geistlichen und Laien sowie die Amts-
und Disziplinarvergehen der Geistlichen, auch über
die rein bürgerlichen Verbrechen der Laien, die
delicta mere civilia, sodann aber auch über die
delicta mixta, d. h. jene Verbrechen, welche zwar
auf weltlichem Gebiete liegen, die aber zugleich
ratione peccati dem kirchlichen Strafrecht unter-
stehen, so Sakrileg, Blasphemie, Zauberei, Mein-
eid, Wucher, Mord, Diebstahl, schwere Fleisches-
sünden usw., für welch letztere nach Aufhören des
Sendgerichtes die Kirche eine mit dem Staate
konkurrierende, sich durch Prävention entscheidende
Gerichtsbarkeit besaß. So wie die streitige Ge-
richtsbarkeit verlor die Kirche seit Ausgang des
Mittelalters auch zum größten Teil die Straf-
gerichtsbarkeit. Infolgedessen kann sie heute gegen-
über den Laien nur kirchliche Strafen verhängen,
dagegen wird die kirchliche Amts= und Disziplinar=
gewalt über die Geistlichen auch staatlicherseits meist
anerkannt und unterstützt, sofern ein geordnetes
Prozeßverfahren vor einer einheimischen kirchlichen
Behörde beobachtet, das Erkenntnis schriftlich fixiert
und mit Gründen versehen wird. Bezüglich der
bürgerlichen Vergehen der Geistlichen besteht an
sich eine kirchliche Gerichtsbarkeit mit bürgerlichen
Folgen nicht mehr. Wohl aber steht es der Kirche
frei, mit kirchlichen Strafen auch hiergegen vor-
zugehen, zumal die Gesetze verschiedener Staaten
die Mitteilung einer eingetretenen Kriminalunter-
suchung gegen einen Geistlichen an die kirchliche
Behörde vorschreiben. Über die kirchlichen Strafen
im einzelnen val. d. Art. Kirchenstrafen.
Theoretisch hält die Kirche an ihrer streitigen
und peinlichen Gerichtsbarkeit noch heute fest, wie
aus der Bestimmung der Bulle Apostolicae Sedis
vom 12.Okt. 1869 hervorgeht, nach welcher der dem
Papste speciali modo reservierten Exkommuni-
kation alle diejenigen verfallen, welche die Aus-