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den streitigen Prozeß (für den Strafprozeß ist es
ausgeschlossen) als außerordentlicher Gerichtsstand
das forum prorogatum, d. h. ein von den Par-
teien frei gewählter Gerichtsstand Anwendung, da
Kleriker, denen ein Verzicht auf das privilegium
fori nicht freisteht, sich durch Prorogation nicht
der bischöflichen Jurisdiktion entziehen dürfen und
daher nur innerhalb der Diözese mit Erlaubnis
des Bischofs auf ein geistliches Gericht prorogieren
können.
5. Kanonisches Prozeßverfahren. Auf
das bis ins kleinste geregelte Verfahren kann hier
nicht näher eingegangen werden; es sei daher nur
hervorgehoben: an Stelle des ordentlichen strei-
tigen Prozesses, welcher auf den Grundsätzen
der Schriftlichkeit und der Verhandlungsmaxime
beruht und sich in drei Stadien vollzieht: Vor-
verfahren oder Schriftenwechsel, Beweis= oder
Hauptverfahren, Urteil mit Vollzug, ist in den
meisten Fällen das summarische Verfahren ge-
treten, welches in möglichster Beschleunigung des
Prozesses unter Beibehaltung des wesentlichen,
besonders der drei Stadien und der Verhandlungs-
maxime besteht. Ebenso ist an Stelle des ordent-
lichen Strafprozesses, welcher seit Inno-
zenz III. nicht mehr ein Akkusations-, sondern ein
Inquisitionsverfahren ist (ogl. auch d. Art. Straf-
prozeß), durch die Instruktion der Congr. Episc.et
Reg. vom 11. Juni 1880 das summarische Straf-
und Disziplinarverfahren getreten, welches unter
Beibehaltung der Grundsätze des Inquisitions-
prozesses, so namentlich des der Schriftlichkeit,
zunächst für Disziplinar= und Strafsachen der
Geistlichen vorgeschrieben ist, aber auch Anwen-
dung gegen Laien finden kann, ohne jedoch dem
ordentlichen Inquisitionsverfahren zu derogieren.
Die Instruktion unterscheidet ein außergerichtliches
und ein gerichtliches Verfahren. Ersteres bezweckt,
dem Übel durch geistliche Ubungen, Ermahnungen
usw. vorzubeugen, bei schweren geheimen Vergehen
den Delinquenten zu bessern: monitio paterna,
sententia ex informata conscientia. Nutzen
diese Mittel nichts, oder ist das Verbrechen bereits
ein öffentliches, Argerniserregendes geworden, dann
findet zur Sühne desselben der gerichtliche sum-
marische Strafprozeß Anwendung, welcher sich in
die monitio canonica, die Voruntersuchung, die
gerichtliche Inquisition und den Schlußtermin mit
der Urteilsfällung gliedert. — An Beweis-
mitteln kennt der kanonische Prozeß: Zeugen,
Urkunden, Eid, richterlicher Augenschein, Gutachten
von Sachverständigen und Indizien.
6. Die Rechtsmittel (remedia iuris) zer-
fallen in ordentliche, welche innerhalb der Notfrist
von zehn Tagen eingelegt werden müssen, und
außerordentliche, welche nicht an diese Frist ge-
bunden sind, ferner in devolutive und nicht de-
volutive, je nachdem die Sache an eine höhere
Instanz geht oder nochmals vor derselben Instanz
verhandelt wird, endlich in suspensive oder nicht
suspensive, je nachdem die Exekution des rtteils
Gerichtsbarkeit, kirchliche.
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aufgeschoben wird oder nicht. Gegen das ungerechte,
aber noch nicht rechtskräftig gewordene Urteil ist
das ordentliche Rechtsmittel der Appellation
an den höheren kirchlichen Richter (der Papst kann
in allen Fällen als Appellationsinstanz ange-
gangen werden) gegeben, welche in drei Stadien
verläuft: Einlegung oder Anmeldung, Einführung
und Ausführung oder Rechtfertigung. Die außer-
gerichtliche Appellation (appellatio extraiudi-
cialis, provocatio ad causam) oder Rekurs
wird nicht gegen eine gerichtliche, sondern gegen
eine außergerichtliche Sentenz, gegen eine juris-
diktionelle Verwaltungshandlung eingelegt. Als
außerordentliche Rechtsmittel kommen in Betracht:
die Nichtigkeitsbeschwerde (querela nul-
litatis) gegen ein infolge eines Formmangels un-
gültiges Urteil, welche erst nach 30 Jahren ver-
jährt; ferner die Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand (restitutio in integrum),
welche aus Billigkeitsrücksichten, die eine laesio
enormis und eine iusta causa voraussetzen
(Minderjährige, kirchliche Anstalten, Abwesende
bei genügender Entschuldigung, Verurteilung auf
Grund falscher Zeugen, Betruges usw.), ein gül-
tiges und rechtskräftig gewordenes Urteil wieder
aufhebt. Die Einlegung der Beschwerde ist an die
Frist von vier Jahren nach Beendigung der Min-
derjährigkeit, nach Entdeckung der Nachteile usw.,
von 20 Jahren bei gefälschten Beweismitteln ge-
bunden. Endlich besteht gegen ein inappellables
Urteil als außerordentliches Rechtsmittel noch die
Revision (supplicatio, retractatio oder re-
visio), d. h. die an den Papst gerichtete Bitte,
eine Sache, in der nicht mehr appelliert werden
kann, nochmals verhandeln zu lassen, welcher je-
doch nur aus sehr gewichtigen Gründen statt-
gegeben wird.
7. Was schließlich die Gerichtsbarkeit in
derevangelischen Kirche anlangt, so wurde
zwar anfänglich jede kirchliche Gerichtsbarkeit ab-
gelehnt, aber doch schon im 16. Jahrh. aus prak-
tischen Gründen eine Ehegerichtsbarkeit gefordert
und auch staatlicherseits gewährt, bis dann nach
Errichtung der Konsistorien auch die evangelische
Kirche Gerichtsbarkeit über Patronatsrecht, Par-
ochialverhältnisse, Kirchendermögen, Güter und
Person der Geistlichen erlangte. Unter der Herr-
chaft des Territorialsystems aber verloren die
Konsistorien in Deutschland ein Stück ihrer Zu-
ständigkeit nach dem andern an die weltlichen
Gerichte, bis schließlich auch die teilweise noch bis
in die jüngste Zeit festgehaltene Ehegerichtsbarkeit
durch das Reichsrecht beseitigt wurde. Eine wirk-
liche Strafgerichtsbarkeit hat die evangelische Kirche
nur vorübergehend unter der Herrschaft des Epi-
skopalsystems besessen, die sie in der Zeit des Ter-
ritorialsyustems wieder verlor. Aber auch die
Kirchenzucht, d. h. das kirchliche Einschreiten
gegen schwere sittliche und religiöse Verfehlungen
ihrer Glieder, welche durch Gotteslästerung, Ehe-
bruch, Unzucht, Verletzung christlicher und kirch-
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