Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

509 
licher Pflichten offenbares Argernis erregen, ver- 
fiel in jener Zeit zugleich mit der Verkümmerung 
der Gemeinderechte immer mehr. Erst die neueren 
Kirchengesetze suchen sie wieder zu beleben. Die 
Handhabung der Zuchtgewalt liegt bei den Ge- 
meindeorganen vorbehaltlich des Rekurses gegen 
ihre Entscheidungen an den Kreissynodalvorstand. 
Als Strafen kennt die evangelische Kirche nach 
vorgängigem Mahnverfahren Entziehung des 
Stimm= und Wahlrechts, der Befähigung zur 
Taufpatenschaft, Ausschluß vom Abendmahl, 
Entziehung des feierlichen Begräbnisses bei Selbst- 
mördern, während der Ausschluß aus der kirch- 
lichen Gemeinschaft nicht eine Strafe ist, sondern 
nur in der Konstatierung des erfolgten Abfalles von 
der Kirche besteht. Die Disziplinargerichts- 
barkeit gegen Geistliche war Sache der Kon- 
sistorien; doch ging sie unter der Herrschaft des 
Territorialsystems zum Teil an die welllichen 
Behörden verloren, bis sie erst in neuester Zeit 
wieder an die Kirchenregimentsbehörden übertragen 
wurde, so in Preußen an die Konsistorien in erster, 
den Oberkirchenrat bzw. Kultusminister in letzter 
Instanz; jedoch haben im Falle der Abweichung 
erstere den Provinzialausschuß, letztere den Ge- 
neralsynodalvorstand hinzuzuziehen. In andern 
Staaten ist entweder eine eigene gemischte Ge- 
richtsbehörde gebildet, oder der Landesherr selbst 
verhängt die Strafe auf Antrag der Kirchenbehörde. 
Als Strafen kommen in Betracht: Mahnung, Ver- 
weis, Geldstrafe, Enthebung von Gehalt oder von 
Amtund Gehaltauf Zeit, Strafversetzung, zwangs- 
weise Zuruhesetzung mit geringerem Ruhegehalt, 
Amtsentsetzung oder Dienstentsetzung mit Verlust 
der Standesrechte. Die staatliche Gesetzgebung 
steht der evangelischen Kirchenzucht und Diszipli- 
nargerichtsbarkeit im allgemeinen nicht anders 
gegenüber als der Gerichtsbarkeit der katholischen 
Kirche. 
Bezüglich der umfangreichen Literatur muß 
auf die Angaben in den Lehrbüchern des Kirchen- 
rechts, besonders Sägmüller 8§ 167 ff u. Friedberg 
8§§ 99 ff verwiesen werden. Hervorgehoben seien nur 
München, Das kanonische Gerichtsverfahren u. 
Strafrecht (21874); Bouix, Tractatus de indiciis 
ecclesiasticis (1854); Lega, De iudicibus eccle- 
Siasticis civilibus I/IV (21905). LEbers.) 
Gerichtsverfassung, deutsche. (Staats- 
rechtliche Grundlage; richterliche Personen und 
Behörden; deren Zuständigkeit.) 
Auf Grund der deutschen Reichsverfassung Art.4, 
Ziff. 13 erging unterm 27. Jan. 1877 das Ge- 
richtsverfassungsgesetz, in Kraft seit 1. Okt. 1879, 
als Ergänzung zu den sonstigen Prozeßgesetzen, 
insbesondere zur Zivil= und Strafprozeßordnung. 
Novellen hierzu wurden veröffentlicht: am 17. März 
1886 betreffend Plenar= und vereinigte Zivil- 
senatsentscheidungen des Reichsgerichts zu 8 137, 
am 5. April 1888 betreffend die Offentlichkeit der 
Gerichtsverhandlungen zu den 88 173/176; so- 
dann wurde unterm 17. Mai 1898 aus Anlaß 
Gerichtsverfassung, deutsche. 
  
510 
der Ncureglung des Zivilrechts eine Reihe von 
Bestimmungen modifiziert und der neue Text 
unterm 20. Mai 1898 veröffentlicht; ferner wurde 
durch Gesetz vom 22. Juni 1899 betreffend das 
Flaggenrecht der Kauffahrteischiffe § 74, Nr 2 des 
Gesetzes aufgehoben. Weiterhin erfuhr § 113 
Abs. 1 G.V.G. betreffend Handelsrichter durch 
das Gesetz vom 20. März 1905 eine Erweiterung. 
Endlich brachten die Gesetze vom 5. Juni 1905 
eine Erhöhung der Zuständigkeitsgrenze für die 
Schöffengerichte und eine Entlastung des Reichs- 
gerichts. Durch diese mehrfachen teilweisen Ab- 
änderungen wurde aber eine wesentliche Anderung 
der Grundlagen des ursprünglichen Gesetzes nicht 
herbeigeführt. 
Die Rücksicht auf die Justizhoheit der Einzel- 
staaten, der Umstand, daß die vom Verfahren 
nicht zu trennenden Zuständigkeitsvorschriften in 
den Prozeßordnungen behandelt werden mußten — 
wie denn auch im B.G.B. und seinen Nebenge- 
setzen einschlägige Bestimmungen sich vorfinden —, 
ferner der Mangel des Bedürfnisses einheitlicher 
Reglung über die Anforderungen der Prozeßord- 
nungen hinaus haben bewirkt, daß das Gesetz ein 
unvollständiges geworden ist. 
Es bezieht sich nur auf die ordentliche streitige 
Gerichtsbarkeit und deren Ausübung durch Amts- 
gerichte und Landgerichte, durch Oberlandesgerichte 
und durch das Reichsgericht. Vor diese Gerichte 
gehören alle bürgerlichen Rechtsstreitig- 
keiten und Strafsachen, für welche nicht 
entweder die Zuständigkeit von Verwaltungs- 
behörden oder Verwaltungsgerichten begründet ist 
oder reichsgesetzlich besondere Gerichte bestellt oder 
zugelassen sind. „Streitig“ ist die Gerichtsbarkeit 
in den Fällen, in welchen dem Beklagten oder 
Angeklagten die rechtliche Möglichkeit zusteht, dem 
Klageantrag zu widersprechen; den Gegensat bil- 
det die Justizverwaltung und die nicht streitige 
Rechtspflege (Reichsgesetz vom 17. Mai 1898 über 
die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbar- 
keit; vgl. d. Art. Gerichtsbarkeit, freiwillige); der 
Begriff des bürgerlichen (nicht öffentlichen) Rechts 
ist dem materiellen Rechte zu entnehmen. 
Bei den Strassachen (zu unterscheiden von den 
Angelegenheiten der administrativen und diszi- 
plinarischen Zwangsgewalt, den Exekutiv-, Ord- 
nungs= und Disziplinarstrafen) ist die Grenze 
größtenteils reichsrechtlich gezogen. Was vor die 
Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichte 
gehört, bestimmt das Landesrecht; in nicht wenigen 
Fällen ist aber die Ausschließung des Rechtsweges 
reichsgesetzlich untersagt (z. B. bei vermögensrecht- 
lichen Ansprüchen der Richter). Über die Zulässig- 
keit des Rechtswegs entscheiden die Gerichte; vor- 
behalten ist die Erledigung von Kompetenzkon- 
flikten (s. d. Art.) durch besondere Behörden und 
die Vorentscheidung über das Verschulden eines 
Beamten bei Ausübung seiner Amtstätigkeit durch 
einen Verwaltungsgerichtshof oder durch das 
Reichsgericht.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.