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licher Pflichten offenbares Argernis erregen, ver-
fiel in jener Zeit zugleich mit der Verkümmerung
der Gemeinderechte immer mehr. Erst die neueren
Kirchengesetze suchen sie wieder zu beleben. Die
Handhabung der Zuchtgewalt liegt bei den Ge-
meindeorganen vorbehaltlich des Rekurses gegen
ihre Entscheidungen an den Kreissynodalvorstand.
Als Strafen kennt die evangelische Kirche nach
vorgängigem Mahnverfahren Entziehung des
Stimm= und Wahlrechts, der Befähigung zur
Taufpatenschaft, Ausschluß vom Abendmahl,
Entziehung des feierlichen Begräbnisses bei Selbst-
mördern, während der Ausschluß aus der kirch-
lichen Gemeinschaft nicht eine Strafe ist, sondern
nur in der Konstatierung des erfolgten Abfalles von
der Kirche besteht. Die Disziplinargerichts-
barkeit gegen Geistliche war Sache der Kon-
sistorien; doch ging sie unter der Herrschaft des
Territorialsystems zum Teil an die welllichen
Behörden verloren, bis sie erst in neuester Zeit
wieder an die Kirchenregimentsbehörden übertragen
wurde, so in Preußen an die Konsistorien in erster,
den Oberkirchenrat bzw. Kultusminister in letzter
Instanz; jedoch haben im Falle der Abweichung
erstere den Provinzialausschuß, letztere den Ge-
neralsynodalvorstand hinzuzuziehen. In andern
Staaten ist entweder eine eigene gemischte Ge-
richtsbehörde gebildet, oder der Landesherr selbst
verhängt die Strafe auf Antrag der Kirchenbehörde.
Als Strafen kommen in Betracht: Mahnung, Ver-
weis, Geldstrafe, Enthebung von Gehalt oder von
Amtund Gehaltauf Zeit, Strafversetzung, zwangs-
weise Zuruhesetzung mit geringerem Ruhegehalt,
Amtsentsetzung oder Dienstentsetzung mit Verlust
der Standesrechte. Die staatliche Gesetzgebung
steht der evangelischen Kirchenzucht und Diszipli-
nargerichtsbarkeit im allgemeinen nicht anders
gegenüber als der Gerichtsbarkeit der katholischen
Kirche.
Bezüglich der umfangreichen Literatur muß
auf die Angaben in den Lehrbüchern des Kirchen-
rechts, besonders Sägmüller 8§ 167 ff u. Friedberg
8§§ 99 ff verwiesen werden. Hervorgehoben seien nur
München, Das kanonische Gerichtsverfahren u.
Strafrecht (21874); Bouix, Tractatus de indiciis
ecclesiasticis (1854); Lega, De iudicibus eccle-
Siasticis civilibus I/IV (21905). LEbers.)
Gerichtsverfassung, deutsche. (Staats-
rechtliche Grundlage; richterliche Personen und
Behörden; deren Zuständigkeit.)
Auf Grund der deutschen Reichsverfassung Art.4,
Ziff. 13 erging unterm 27. Jan. 1877 das Ge-
richtsverfassungsgesetz, in Kraft seit 1. Okt. 1879,
als Ergänzung zu den sonstigen Prozeßgesetzen,
insbesondere zur Zivil= und Strafprozeßordnung.
Novellen hierzu wurden veröffentlicht: am 17. März
1886 betreffend Plenar= und vereinigte Zivil-
senatsentscheidungen des Reichsgerichts zu 8 137,
am 5. April 1888 betreffend die Offentlichkeit der
Gerichtsverhandlungen zu den 88 173/176; so-
dann wurde unterm 17. Mai 1898 aus Anlaß
Gerichtsverfassung, deutsche.
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der Ncureglung des Zivilrechts eine Reihe von
Bestimmungen modifiziert und der neue Text
unterm 20. Mai 1898 veröffentlicht; ferner wurde
durch Gesetz vom 22. Juni 1899 betreffend das
Flaggenrecht der Kauffahrteischiffe § 74, Nr 2 des
Gesetzes aufgehoben. Weiterhin erfuhr § 113
Abs. 1 G.V.G. betreffend Handelsrichter durch
das Gesetz vom 20. März 1905 eine Erweiterung.
Endlich brachten die Gesetze vom 5. Juni 1905
eine Erhöhung der Zuständigkeitsgrenze für die
Schöffengerichte und eine Entlastung des Reichs-
gerichts. Durch diese mehrfachen teilweisen Ab-
änderungen wurde aber eine wesentliche Anderung
der Grundlagen des ursprünglichen Gesetzes nicht
herbeigeführt.
Die Rücksicht auf die Justizhoheit der Einzel-
staaten, der Umstand, daß die vom Verfahren
nicht zu trennenden Zuständigkeitsvorschriften in
den Prozeßordnungen behandelt werden mußten —
wie denn auch im B.G.B. und seinen Nebenge-
setzen einschlägige Bestimmungen sich vorfinden —,
ferner der Mangel des Bedürfnisses einheitlicher
Reglung über die Anforderungen der Prozeßord-
nungen hinaus haben bewirkt, daß das Gesetz ein
unvollständiges geworden ist.
Es bezieht sich nur auf die ordentliche streitige
Gerichtsbarkeit und deren Ausübung durch Amts-
gerichte und Landgerichte, durch Oberlandesgerichte
und durch das Reichsgericht. Vor diese Gerichte
gehören alle bürgerlichen Rechtsstreitig-
keiten und Strafsachen, für welche nicht
entweder die Zuständigkeit von Verwaltungs-
behörden oder Verwaltungsgerichten begründet ist
oder reichsgesetzlich besondere Gerichte bestellt oder
zugelassen sind. „Streitig“ ist die Gerichtsbarkeit
in den Fällen, in welchen dem Beklagten oder
Angeklagten die rechtliche Möglichkeit zusteht, dem
Klageantrag zu widersprechen; den Gegensat bil-
det die Justizverwaltung und die nicht streitige
Rechtspflege (Reichsgesetz vom 17. Mai 1898 über
die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbar-
keit; vgl. d. Art. Gerichtsbarkeit, freiwillige); der
Begriff des bürgerlichen (nicht öffentlichen) Rechts
ist dem materiellen Rechte zu entnehmen.
Bei den Strassachen (zu unterscheiden von den
Angelegenheiten der administrativen und diszi-
plinarischen Zwangsgewalt, den Exekutiv-, Ord-
nungs= und Disziplinarstrafen) ist die Grenze
größtenteils reichsrechtlich gezogen. Was vor die
Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichte
gehört, bestimmt das Landesrecht; in nicht wenigen
Fällen ist aber die Ausschließung des Rechtsweges
reichsgesetzlich untersagt (z. B. bei vermögensrecht-
lichen Ansprüchen der Richter). Über die Zulässig-
keit des Rechtswegs entscheiden die Gerichte; vor-
behalten ist die Erledigung von Kompetenzkon-
flikten (s. d. Art.) durch besondere Behörden und
die Vorentscheidung über das Verschulden eines
Beamten bei Ausübung seiner Amtstätigkeit durch
einen Verwaltungsgerichtshof oder durch das
Reichsgericht.