Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Als besondere Gerichte sind reichsgesetzlich be- 
stellt die Konsulargerichte (Reichsgesetz vom 7. April 
1900), die Militärstrafgerichte (Militärstrafge- 
richtsordnung mit Einf. Ges. vom 1. Dez. 1898 
und Gesetz vom 9. März 1899 betreffend die Ein- 
richtung eines besondern Senats für das bayrische 
Heer beim Reichsmilitärgericht in Berlin, mit 
einer Reihe von kaiserlichen Verordnungen, ins- 
besondere bezüglich der Angehörigen der kaiser- 
lichen Schutztruppen, die Prisengerichte (Gesetz 
vom 3. Mai 1884 und Verordnung vom 15. Febr. 
1889, die Schutzgebietsgerichte. 
Zugelassen sind als besondere Gerichte die auf 
Staatsverträgen beruhenden Nheinschiffahrts= und 
Elbzollgerichte, die Agrargerichte, die Gemeinde- 
gerichte (iun Baden und Württemberg), die Ge- 
werbegerichte (Reichsgesetz vom 29. Juli 1890) 
und die Kaufmannsgerichte (Reichsgesetz vom 
6. Juli 1904). 
Zu erwähnen ist noch das landesgesetzlich den 
Standesherren gewährte Recht auf Austräge, 
welches durch das Reichsgerichtsverfassungsgesetz 
nicht berührt wird. 
Der so abgegrenzten ordentlichen streitigen Ge- 
richtsbarkeit sind alle Personen unterworfen, die 
der Staatsgewalt unterworfen sind; die Befreiung 
von der letzteren aus völkerrechtlichen (s. d. Art. 
Gesandte) oder staatsrechtlichen Gründen greift 
auch der Gerichtsbarkeit gegenüber Platz. 
Die Gerichte sind Staatsgerichte; die Privat- 
gerichtsbarkeit ist aufgehoben; Präsentationen für 
die Anstellungen bei den Gerichten finden nicht 
statt; die Ausübung einer geistlichen Gerichtsbar- 
keit in weltlichen Angelegenheiten, wozu nach Zivil- 
recht insbesondere Ehe= und Verlöbnissachen ge- 
hören, ist ohne bürgerliche Wirkung. Ausnahme- 
gerichte sind unstatthaft; niemand darf seinem 
gesetzlichen Richter entzogen werden (über Stand- 
gerichte und Kriegsgerichte s. die 88 38/70 der 
Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dez. 1898). 
Dierichterliche Gewalt wird durch unabhängige, 
nur dem Gesetze unterworfene Gerichte ausgeübt; 
die Ernennung der Richter erfolgt auf Lebens- 
zeit. Sie sind mit Ausnahme der Richter des 
Reichsgerichts, welche vom Kaiser auf Vorschlag 
des Bundesrats ernannt werden, Landesbeamte, 
sohin den partikularen Rechtsnormen bezüglich der 
Staatsdienerverhältnisse unterworfen (bezüglich der 
besondern Verhältnisse bei den Militärgerichten 
s. d. Art. Militärgerichte, Militärgesetze). Sie be- 
ziehen in ihrer richterlichen Eigenschaft ein festes 
Gehalt mit Ausschluß von Gebühren und können 
wider ihren Willen nur kraft richterlicher Ent- 
scheidung aus gesetzlichen Gründen in gesetzlich 
geregeltem Verfahren dauernd oder zeitweise ihres 
Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder 
in den Ruhestand versetzt werden; die vorläufige 
Amtsenthebung, welche kraft Gesetzes eintritt, 
wird hierdurch nicht berührt. Bei einer Verände- 
rung in der Organisation der Gerichte oder ihrer 
Bezirke können unfreiwillige Versetzungen an ein 
Gerichtsverfassung, deutsche. 
  
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anderes Gericht oder Entfernungen vom Amte 
unter Belassung des vollen Gehalts durch die 
Landesjustizverwaltung verfügt werden. 
Die Fähigkeit zum Richteramte besitzt jeder 
ordentliche öffentliche Lehrer des Rechts an. einer 
deutschen Universität; sonst wird sie durch die Ab- 
legung zweier Prüfungen erlangt. Für die Zu- 
lassung zur ersten Prüfung ist dreijähriges Stu- 
dium der Rechtswissenschaft auf einer Universität, 
wovon mindestens drei Halbjahre dem Studium 
auf einer deutschen Universität zu widmen sind, 
vorgeschrieben; der zweiten Prüfung muß ein drei- 
jähriger Vorbereitungsdienst bei den Gerichten und 
bei den Rechtsanwälten vorhergehen. Landesrecht- 
lich kann eine Erhöhung dieser Voraussetzungen 
eintreten; auch kann bestimmt werden, daß ein 
Teil der Vorbereitungszeit, jedoch höchstens ein 
Jahr, bei Verwaltungsbehörden geleistet wird. 
Die Fähigkeit zum Richteramte wird für das ganze 
Deutsche Reich erworben. 
Die Handhabung der ordentlichen streitigen 
Gerichtsbarkeit steht den Einzelstaaten zu (ausge- 
nommen Reichsgericht und Reichsmilitärgericht); 
die Gerichte haben sich in bürgerlichen Rechts- 
streitigkeiten und in Strafsachen Rechtshilfe zu 
leisten (in Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit 
§ 2 des Ges. vom 17. Mai 1898, im militär- 
gerichtlichen Verfahren s. Einf. Ges. zur Militär- 
strafgerichtsordnung §8§ 11/13). Das Ersuchen 
um Rechtshilfe ist an das Amtsgericht, in dessen 
Bezirk die Amtshandlung vorgenommen werden 
soll, zu richten; das Ersuchen darf nicht abgelehnt 
werden; das Ersuchen eines nicht im Instanzen- 
zuge vorgesetzten Gerichts ist jedoch abzulehnen, 
wenn dem ersuchten Gerichte die örtliche Zuständig- 
keit mangelt oder die vorzunehmende Handlung 
nach dem Rechte des ersuchten Gerichts verboten 
ist. Vollstreckungshandlungen, Ladungen und Zu- 
stellungen erfolgen innerhalb des Reichs ohne Rück- 
sicht darauf, ob die Handlungen in dem Bundes- 
staate des Prozeßgerichts vorzunehmen sind. 
Dem Reiche steht die Uberwachung der Einzel- 
staaten in Ausübung der Gerichtsbarkeit zu; die 
Überwachung gebührt dem Kaiser; Reichsbehörde 
hierfür ist das unter dem Reichskanzler stehende 
Reichsjustizamt. Beim Hervortreten von Mängeln 
bei der Ausführung von Reichsgesetzen beschließt 
der Bundesrat. Im Falle der Rechtsverweigerung 
in einem Bundesstaate hat der Bundesrat die 
Rechtshilfe zu bewirken. Diese Bestimmungen ent- 
halten jedoch keine Beschränkung der richterlichen 
Unabhängigkeit. 
Die Amtsgerichte sind mit Einzelrichtern 
besetzt, von denen einer, eventuell mehrere die 
Dienstaufsicht führen; bei den Amtsgerichten wer- 
den für die Verhandlung und Entscheidung von 
Strafsachen Schöffengerichte gebildet, die aus 
dem Amtsrichter und zwei Schöffen bestehen. Das 
Amt eines Schöffen ist ein Ehrenamt, das nur 
von einem Deutschen versehen werden kann. Das 
Gesetz bestimmt die Voraussetzungen der Fähig- 
—
	        
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