Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Antrag von wenigstens 50 Mitgliedern muß na- 
mentliche Abstimmung erfolgen; der Antrag kann 
bei Vertagungs= und Schlußanträgen nur von an- 
wesenden Mitgliedern gestellt werden. 
Die Wahl der Kommissionen soll durch 
die Abteilungen erfolgen, geschieht aber tatsächlich 
durch die Fraktionen bzw. den sog. aus Vertretern 
der Fraktionen unter Vorsitz des Präsidenten be- 
stehenden Seniorenkonvent, welcher feststellt, wie 
viele Mitglieder jede Fraktion jeweilig in die 
Kommissionen zu entsenden hat, und auch den Vor- 
sit im voraus bestimmt. Außer der Wahlprüfungs- 
kommission fungieren im Reichstage regelmäßig 
Kommissionen für die Geschäftsordnung, für Pe- 
titionen, für den Reichshaushaltsetat (Budget- 
kommission), für das Rechnungswesen (Rechnungs- 
kommission) sowie eine vom Präsidenten für die 
Dauer einer jeden Legislaturperiode zu ernennende 
Bibliothekkommission; für einzelne Angelegen- 
heiten, insbesondere die Vorberatung von Gesetz- 
entwürfen, beschließt der Reichstag die Bildung 
besonderer Kommissionen. Dieselben bestehen aus 
14, 21 oder 28 Mitgliedern. Die Kommissionen 
erstatten durch den aus ihrer Mitte gewählten Be- 
richterstatter schriftlichen oder mündlichen Bericht; 
doch kann der Reichstag in jedem Falle schriftliche 
Berichterstattung verlangen und zu diesem Behufe 
die Sache an die Kommission zurückverweisen. 
Die Sitzungen des Reichstages sind öffentlich, 
doch kann auf Antrag des Präsidenten oder von 
zehn Mitgliedern in geheimer Sitzung Ausschluß 
der Offentlichkeit beschlossen werden. Ob und wie 
weit diese Bestimmung der Geschäftsordnung mit 
Art. 22 der Reichsverfassung — wonach „die Ver- 
handlungen des Reichstages öffentlich sind“ — 
vereinbar ist, erscheint streitig. (Für Preußen sind 
geheime Sitzungen durch Art. 79 der Verfassung 
vorgesehen.) Eine Reihenfolge in der Beratung 
der einzelnen Gegenstände im Plenum ist nicht 
vorgeschrieben. Doch findet in der Regel in jeder 
Woche an einem bestimmten Tage, dem sog. 
Schwerinstag (als solcher ist bis auf weiteres der 
Mittwoch festgesetzt worden), eine Sitzung statt, 
in welcher an erster Stelle die von den Mitgliedern 
des Reichstages gestellten Anträge und die zur 
Erörterung im Plenum gelangenden Petitionen 
erledigt werden. 
Die Vorlagen des Bundesrates bedürfen stets 
einer dreimaligen Beratung (Lesung). Anträge 
von Reichstagsmitgliedern, welche von mindestens 
15 Mitgliedern unterzeichnet und mit der Ein- 
gangsformel: „Der Reichstag wolle beschließen“, 
versehen sein müssen, bedürfen einer dreimaligen 
Lesung nur, wenn sie Gesetzentwürfe umfassen; 
sonst genügt eine einmalige Beratung und Ab- 
stimmung. Die erste Beratung über Gesetzent- 
würfe ist auf eine allgemeine Diskussion über die 
Grundsätze des Entwurfs zu beschränken (General= 
diskussion); nach Schluß derselben beschließt der 
Reichstag, ob in die zweite Beratung im Reichs- 
tagsplenum einzutreten oder ob eine Kommission 
Geschäftsordnung, parlamentarische. 
  
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mit der Vorberatung des Entwurfs zu betrauen 
ist. Die zweite Beratung (Spezialdiskussion) soll 
frühestens am zweiten Tage nach dem Abschlusse 
der ersten Beratung, und wenn eine Kommission 
eingesetzt war, frühestens am zweiten Tage, nach- 
dem die Kommissionsanträge gedruckt in die Hände 
der Mitglieder gelangt sind, erfolgen; doch kann 
der Reichstag auch beschließen, die zweite Beratung 
unmittelbar an die erste anzuschließen, weshalb der 
Präsident vielfach die erste und eventuell zweite 
Beratung auf dieselbe Tagesordnung setzt. Über 
jeden einzelnen Artikel der Vorlage wird in der 
Regel der Reihenfolge nach die Diskussion eröff- 
net und geschlossen und die Abstimmung herbeige- 
führt. Nach Schluß der ersten Beratung und im 
Laufe der zweiten Beratung können vonjedemeinzel- 
nen Mitglied Abänderungsvorschläge eingebracht 
werden. Wenn in der zweiten Beratung Abände- 
rungen der Vorlage stattgefunden haben, so stellt 
der Präsident mit Zuziehung der Schriftführer 
die gefaßten Beschlüsse zusammen. Die dritte Be- 
ratung erfolgt frühestens am zweiten Tage nach 
dem Abschlusse der zweiten Beratung bzw. nach der 
Verteilung der vorgedachten Zusammenstellung. 
Sie besteht aus einer General= und einer Spezial- 
diskussion. Abänderungsvorschläge können zwischen 
der zweiten und dritten Beratung und im Verlauf 
der letzteren nur mit Unterstützung von 30 Mit- 
gliedern eingebracht werden. Am Schlusse derdritten 
Beratung wird über die Annahme oder Ablehnung 
des Gesetzentwurfs im ganzen abgestimmt. Ab- 
änderungsvorschläge zu Anträgen, welche keine Ge- 
setzentwürfe enthalten, bedürfen der Unterstützung 
von 30, Resolutionen zum Reichshaushaltsetat 
einer solchen von 15 Mitgliedern. Die Geschäfts- 
ordnung des Reichstages enthält auch Bestim- 
mungen über Behandlung der Interpellationen 
und der Übersichten der vom Bundesrate gefaßten 
Entschließungen auf Beschlüsse des Reichstages so- 
wie über den Erlaß einer Adresse an den Kaiser. 
Die Verfassung sieht das Recht der Interpellation 
und das Adreßrecht nicht vor; tatsächlich werden 
beide geübt. Dagegen fehlt dem Reichstag das 
Recht selbständiger Untersuchungen, sog. Enqueten, 
welches das englische Parlament besitzt. 
Die Hauptbestimmungen der Geschäftsord- 
nungen für die Landtage der einzelnen deut- 
schen Bundesstaaten, insbesondere soweit dieselben 
von der Geschäftsordnung des deutschen Reichs- 
tages abweichen, sind die nachstehenden: Nach der 
Geschäftsordnung des preußischen Herrenhauses 
(vom 17. Febr. 1874, neue Fassung vom 15. Juni 
1892 ist zur Beschlußfähigkeit dieser Körperschaft 
die Anwesenheit von mindestens 60 Mitgliedern 
erforderlich, nach der Geschäftsordnung des preußi- 
schen Abgeordnetenhauses (vom 16. Mai 1876; 
seitdem sind nennenswerte Anderungen nicht vor- 
genommen worden) die Anwesenheit der Mehrheit 
der gesetzlichen Anzahl (früher 433, seit dem Gesetz 
vom 28. Juni 1906 vermehrt auf 443) seiner 
Mitglieder. Die vom König mit erblicher Be-
	        
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