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geradezu unwürdiges Schauspiel darbot. Eine
solche Obstruktion ist unvereinbar mit dem kon-
stitutionellen System, welches darauf beruht, daß
innerhalb der Volksvertretung die Mehrheit ent-
scheidet; mit Hilfe der Geschäftsordnung soll der
Wille der Mehrheit nach ordnungsmäßiger kon-
tradiktorischer Verhandlung zum Willen der Ge-
samtheit gemacht werden. Mißbrauch der geschäfts-
ordnungsmäßigen Handhaben, um das Zustande-
bringen eines Beschlusses zu hindern, untergräbt
die Grundlagen des Parlamentarismus und be-
rechtigt zu kräftiger Gegenwehr. Das englische
Parlament hat sich längst genügende Mittel ge-
schaffen, um einer Obstruktion Herr zu werden.
Auch im deutschen Reichstage ist der Anfang dazu
gemacht. Die von den Freisinnigen und den So-
zialdemokraten gegen die sog. Lex Heinze im
Jahre 1900 unternommene Obstruktion durch
Einbringung zahlreicher Anträge, welche mit dem
Gegenstande der Verhandlung in keinem oder nur
sehr losem Zusammenhange standen, durch dauer-
rednerische Vertretung dieser Anträge sowie durch
Häufung zeitraubender namentlicher Abstimmun-
gen konnte noch durch eine Verständigung unter
den Parteien beendigt werden. Dagegen führte
die Obstruktion der Freisinnigen Vereinigung und
der Sozialdemokraten gegen den neuen Zolltarif
im Jahre 1902, welche zu den alten Mitteln end-
lose Reden zur Geschäftsordnung hinzufügte und
Dauerreden bis zur Ausdehnung von acht Stun-
den brachte, zu mehreren Anderungen der Ge-
schäftsordnung: die Vornahme namentlicher Ab-
stimmungen wurde abgekürzt, Reden zur Geschäfts-
ordnung wurden stark beschränkt. Im österreichi-
schen Abgeordnetenhause, wo die Obstruktion meist
aus nationalistischen Bestrebungen hervorgeht und
zeitweise das Funktionieren des Parlamentes völlig
zum Stillstand bringt, bedarf es einer weitgehen-
den Umgestaltung der Geschäftsordnung.
Literatur. Reichstagshandbuch (1907); Pe-
rels, Das autonome Reichstagsrecht (1903); Weiß,
Der deutsche Reichstag u. seine Geschäftsordnung
(1906); Plate, Handbuch für das preuß. Abgeord-
netenhaus (1904); ders., Die Geschäftsordnung des
preuß. Abgeordnetenhauses (1903); David, Hand-
buch für das preuß. Herrenhaus (1907); Krazeisen,
Der Geschäftsgang des bayr. Landtages, in Blätter
für administrative Praxis LVI (1906); May, A
Practicaltreatise on the law, privileges, proceed-
ings and usage of Parliament (1°1893), über-
setzt von Oppenheim, Das englische Parlaments;
Brandenburg, Die parlamentarische Obstruktion,
im Jahrbuch der Gehe-Stiftung LX (1904); Rad-
nitzky, Das Wesen der Obstruktionstaktik, in Grün-
huts Zeitschr. für das Privat= u. öffentl. Recht der
Gegenwart XXXI (1904); Schwarz, Die Rechts-
lehre der Obstruktion, ebd. XXXIII (1906); Mas= 8
son, De Tobstruction parlamentaire (1902).
(Jul. Bachem.)
Geschäftsträger s. Gesandte (Sp. 522).
Gesellenwesen s. Lehrlings= und Gesellen-
wesen.
Staatslexikon. II. 3. Aufl.
Geschäftsträger — Gesellschaft usw.
546
Gesellschaft und Gesellschaftswissen-
schaft. I. Gesellige Ratur des Menschen.
Der Mensch ist von Natur aus zu geselligem
Leben veranlagt. Schon in physischer Beziehung
ist der Mensch viel größeren Bedürfnissen unter-
worfen als das Tier: kein Tier hat eine so lange
und hilflose Jugend durchzumachen wie der Mensch.
Noch länger dauert die geistige Heranziehung der
jungen Generation. Ein wichtiger Beweis der
gesellschaftlichen Natur ist das Verkehrsmittel der
Sprache. Die Verschiedenheit der Menschen und
der menschlichen Bedürfnisse begründet Wechsel
und Verschiedenheit der menschlichen Wünsche,
Ziele und Zwecke. Gleichheit der Interessen rückt
die Menschen einander näher. Das Bedürfnis
gegenseitiger Unterstützung in der Verfolgung ge-
meinsamer Ziele hält sie zusammen, weckt und
stärkt ihr Gemeinschaftsgefühl; denn die mensch-
liche Vereinigung besitzt das Eigentümliche, durch
Verbindung und Ausgleichung verschiedenartiger
Kräfte die Gesamtkraft über die Summe der Einzel-
kräfte zu erhöhen.
Die staatliche Tätigkeit bildet wohl einen Teil
des geselligen Lebens der Menschen, erschöpft das-
selbe jedoch keineswegs. In der Erfüllung der
Aufgaben, welche das staatliche Leben an die
Menschen stellt, geht das gesamte Leben der im
Staate verbundenen Menschen nicht auf. Der
einzelne, sofern er nicht als Amtsperson, als un-
mittelbarer Träger staatlicher Aufgaben erscheint,
verlangt von der staatlichen Gemeinschaft unter
gewöhnlichen Verhältnissen nur Schutz zur Durch-
führung der eigenen, die staatliche Gemeinschaft
unmittelbar nicht berührenden Zwecke. Innerhalb
der staatlichen Ordnung (auch über dieselbe hinaus-
gehend) wirken die einzelnen in mannigfacher
Weise aufeinander ein und unterhalten zueinander
Beziehungen. Durch die UÜbereinstimmung ihrer
unmittelbaren Bedürfnisse, durch mächtige Inter-
essen treffen sie zusammen, gehen aus schon be-
stehenden Vereinigungen hervor und sind durch
örtliche Zusammengehörigkeit aufeinander ange-
wiesen. Zur Erfüllung der menschlichen Zwecke
besteht eine immer wiederkehrende Gleichheit der
Beziehungen, eine Neigung zu bleibenden Gestal-
tungen einzelner Bestandteile der Bevölkerung,
mannigfache Vereinigungen, die in den seltensten
Fällen durch die staatliche Gemeinschaft entstehen,
sich vielmehr als mehr oder weniger selbständige,
durch gemeinsame Zwecke verbundene Lebenskreise
darstellen, für welche die Erfüllung ihrer Zwecke
das erste, die Beziehung zur staatlichen Gemein-
schaft erst das zweite ist.
Diese dauernden Erscheinungen, diese Vereini-
gungen mehrerer, die durch gemeinsame Tätigkeit
einem gemeinschaftlichen Ziele zustreben, mehr oder
weniger durch besondere Rechte und Pflichten ver-
bunden sind, loser oder straffer einer richtung-
gebenden Autorität sich unterordnen, bilden den
„Hauptbestandteil des menschlichen Gemeinlebens.
dDer Vereinigungsgrund dieser besondern Gemein-
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