Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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dem sich u. a. das soziale Leben betätigt, zeigt 
einen weiten Kreis von Bestrebungen und Organi- 
sationen. Nicht nur die gelehrten Gesellschaften, 
Vereine und Lehranstalten sind hier zu erwähnen, 
auch Einrichtungen wie Theater und Presse ge- 
hören zu einem großen Teile hierher. Auch der 
Besitz höherer Bildung bietet einen Vereinigungs- 
grund und mildert die sonst zwischen den Besitz- 
klassen bestehenden Unterschiede, indem er oft nur 
das entsprechende Erziehungskapital besitzende Fa- 
milien mit den gebildeten Reichen zur sog. „guten 
Gesellschaft“ verschmilzt, die sich durch besondere 
Umgangssitten von andern Schichten unterscheidet. 
Umgekehrt hält der Mangel an Bildung empor- 
gekommene, aber ungebildete Reiche aus den 
besseren Kreisen fern. Selbstverständlich ist das, 
was gewöhnlich Bildung genannt wird, also ins- 
besondere die intellektuelle Bildung und Lebensart, 
nicht Selbstzweck, sondern untergeordnet, Mittel 
und Werkzeug der höheren inneren, der moralischen 
Bildung. 
Dem ethischen Gebiete gehören vor allem 
die religiösen Vereinigungen an, sodann die be- 
treffenden Erscheinungen im Rechts= und Staats- 
leben, die gemeinnützigen Vereinigungen zu Werken 
der Wohltätigkeit und der sittlichen Ubung, die 
sich zusammenschließenden Anhänger politischer, 
sozialer, wirtschaftlicher, religiöser Grundsätze, 
welche diese Anschauungen auf das Staats= und 
Gesellschaftsleben zu übertragen und zu verwirk- 
lichen streben; endlich die geselligen Vereine. Auch 
bezeichnet man mit Gesellschaft die lose Form des 
zu Erholungszwecken gepflegten regelmäßigen Ver- 
kehrs (Umgang) und meint dies insbesondere dann, 
wenn im moralischen Sinne von guter undsschlechter 
Gesellschaft gesprochen wird. Zu solchen losen ge- 
selligen Vereinigungen zählen auch die zufälligen 
und regelmäßigen traurigen und freudigen ge- 
meinsamen Kundgebungen, z. B. die Feste, die 
eine Vereinigung der Genossen zu gemeinsamer 
Freude sind, da sich in ihnen die Freude des ein- 
zelnen zu gesellschaftlicher Freude erhebt. 
III. Berhältnis der Gesellschaften unter- 
einander; Staat und Gesellschaft. Es besteht 
eine bunte Mannigfaltigkeit der Verflechtungen, 
der Kreuzung, Häufung und des Kampfes der 
Interessengemeinschaften, wobei für das Fern- 
bleiben von gefährlichen Störungen und Erschüt- 
terungen die oberste Gemeinschaft zu sorgen ver- 
pflichtet ist. Die einzelnen Haupt= und Unterarten 
treten in freundliche, aber auch feindliche Be- 
ziehungen zueinander, wie ja auch bei den Indi- 
viduen die gleiche Beschäftigung nicht bloß Zu- 
sammenschluß, sondern auch Nebenbuhlerschaft 
(Konkurrenten)hervorbringt. Durch die Interessen- 
vertretung kann sowohl eine Steigerung als eine 
Abschwächung der Gemeinbestrebungen entstehen: 
eine Schwächung, wenn sich die Interessen kreuzen, 
wenn dieselben Menschen durch die einen Inter- 
essen an den einen, durch andere an einen andern 
Gesellschaftskreis gebunden sind; eine Steigerung, 
  
Gesellschaft usw. 
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wenn Beschäftigungsarten mit Besitzverhältnissen 
Verbindungen eingehen, wodurch die betreffenden 
Arbeitsgemeinschaften an Festigkeit gewinnen, oder 
wenn Gemeinschaften durch Zeit= und Raumver- 
hältnisse verstärkt werden. 
Abgesehen nämlich von ihrer innern Natur sind 
boziale Gestaltungen um so wichtiger, je hervor- 
ragender sie in Bezug auf Zeit und Raum er- 
scheinen. Erst die dauernden Beziehungen ver- 
ein#igen eine Mehrheit von Menschen (im Unter- 
schiede von einer bloßen Versammlung) zu einer 
Gesellschaft. Darum sind auch die sog. notwendigen 
Gesellschaften: Familie, Kirche, Staat, von so 
großer Dauer, und deshalb spielt die Erblich- 
keit bei der Frage nach der Festigkeit einer Ge- 
sellschaft eine so große Rolle. Wer eine Familie 
gründet, so lautet der Grundgedanke des Erbrechts, 
soll die Erhaltung des Standes, in welchen er 
seine Nachkommen dadurch gebracht, daß er ihnen 
Leben und Erxziehung gab, nach Möglichkeit sichern. 
Gegenwärtig ist die Bedeutung der Geburtsstände 
rechtlich fast ganz verschwunden, aber tatsächlich 
nicht beseitigt. In der Regel entscheidet ja doch 
auch heute die Abkunft über die soziale Stellung, 
über die Zugehörigkeit zu den oberen Zehntausend 
oder zum Arbeiterstande. Der Geburtsstand des 
Adels, der in früherer Zeit wegen seiner gemein- 
nützigen Aufgaben eine größere Bedeutung hatte, 
beruht auf der bleibenden Anerkennung des Vor- 
zuges gewisser Familien. Immerhin hat er auch 
jetzt noch seine eigenen festgehaltenen Lebensan- 
schauungen, teilweise auch seine eigenen Sitten und 
Grundsätze über Abstammung und Ehe. 
Den Ausgleich der lose verbundenen Lebens- 
kreise besorgt die Rechtsordnung. Wie jetzt die 
Dinge liegen, ist die ausgleichende Machteinheit 
der Staatz er schützt die freie Ausdehnung der 
berechtigten Interessen; ihm liegt das Werk der 
Einigung ob; er ist im weltlichen Sinne die erste, 
die organisierte Gesellschaft. Der bildliche Aus- 
druck „organisch“ soll nur den Vorgang veran- 
schaulichen, daß Teile von ungleicher Struktur und 
Funktion zur Erhaltung des Ganzen zusammen- 
wirken und ihrerseits vom Ganzen erhalten werden. 
Die Staatstätigkeit gegenüber der Gesellschaft 
beschränkt sich auf Ausgleichung, Förderung und 
Eindämmung der Gesellschaftskreise, auf Hem- 
mungen und Anregungen sowie auf Organisations- 
nötigungen, die zur Vermeidung der Störungen 
und unfruchtbaren Getriebes und Gewühles, wo 
der Staat Nachteile von der sich selbst überlassenen 
Gesellschaft fürchtet, unerläßlich find. Der Staat 
unterstützt, wo die eigene Kraft der Betreffenden 
zur Erreichung des nützlichen Zweckes nicht ge- 
nügt; er fördert gesellschaftliche Vereinigungen, 
die der Teilung der Arbeit, dem Streben nach 
Selbstbeteiligung der Staatsbürger an den all- 
gemeinen Staatszwecken dienlich sind. Der Staat 
steuert anderseits jenen Reibungen der Gesellschafts- 
klassen, die den Aufgaben der Gesamtheit hemmend 
entgegentreten; er kann die Freiheit der einzelnen 
  
 
	        
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