Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

553 
Gesellschaftskreise einschränken im Interesse der Er- 
haltung der Einheit des Gemeinwesens. Der 
Staat steht insbesondere heutzutage über den durch 
die Besitzverschiedenheit bedingten Parteiungen 
und hat die Aufgabe, die sozialen Gegensätze nach 
Möglichkeit zu mildern. 
Staat und Gesellschaft wirken übrigens gegen- 
seitig aufeinander ein. Durch das Mittel der 
Gestaltung des öffentlichen und des Privatrechts 
wirkt der Staat auf die Zusammensetzung und 
Schichtung der Gesellschaft ein; man denke z. B., 
wie das Erbrecht des Code eivil die alte Gesell- 
schaft vernichtete, oder wie staatliche Wahlord- 
nungen die Richtung der (für die Gesellschaft so 
wichtigen) Gesetzgebung zu beeinflussen vermögen. 
Anderseits hängt der Staat in seiner Einrichtung 
wieder sehr von der Beschaffenheit der Gesellschaft 
ab, ja es gab Zeiten, wo die Gesellschaftskreise so 
fest in sich organisiert waren und die Herstellung 
des Gleichgewichtes so umfassend auf freiem Fuße 
der Gewohnheit und Vereinbarung erfolgte, daß 
für die staatliche Tätigkeit weniger Aufgaben blie- 
ben als heutzutage. 
Manchmal erstreckt sich die Interessenverflechtung 
über den Staat hinaus. Kirchliche, wissenschaft- 
liche, literarische und wirtschaftliche Zusammen- 
hänge, nationale Verwandtschaften, große Parteien 
und andere Interessengemeinschaften reichen über 
Staaten hinweg. 
IV. Gesellschaftswissenschaft. Man hat den 
Inbegriff der Kenntnisse und Lehren von der Ge- 
sellschaft Gesellschaftswissenschaft, Sozialphilo- 
sophie oder (seit Comte) Soziologie genannt. Da 
der Ausdruck Gesellschaft verschiedenes bezeichnet, 
herrscht auch über Aufgabe und Umfang dieser 
Wissenschaft große Meinungsverschiedenheit. Nicht 
wenige Gelehrte leugnen die Zweckmäßigkeit ihres 
selbständigen Ausbaues ganz und wollen die ein- 
zelnen soziologischen Grundfragen, wie dies bis 
ins 19. Jahrh. fast allgemein geschah, den an- 
grenzenden Sonderdisziplinen vorbehalten, ins- 
besondere der Rechts= und Staatsphilosophie, 
Geschichtsphilosophie und theoretischen Volkswirt- 
schaftslehre. 
In der sozialphilosophischen Spekulation des 
alten Griechenlands, bei den Sophisten, Plato 
und Aristoteles, konzentriert sich das Interesse auf 
den Staat und seine ideale Gestaltung, was aber 
wichtigen soziologischen Grundeinsichten (z. B. be- 
treffs der gesellschaftlichen Bedeutung der Familie, 
der Arbeitsteilung, der umgebenden Natur usw.) 
nicht im Wege stand. Die Vorstellung einer all- 
umfassenden menschlichen Gesellschaft findet sich in 
der antiken Philosophie nur ahnungsweise (bei 
Zeno, Cicero, Seneca). Klargestellt wurde sie erst 
durch das Christentum. Pauli Predigt zu Athen 
gab den Grundgehalt einer universalen Sozial- 
und Geschichtsphilosophie, die in Augustins Lehre 
vom Gottesstaat ihre erste große Durchführung 
fand. Die Denker des Mittelalters bauten mehr 
die theoretische als die historische Seite einer christ- 
Gesellschaft usw. 
  
554 
lichen Gesellschaftslehre aus. Sie verstanden das 
Wesen des Einzelmenschen als Gesellschaftsglied 
und des Staatsorganismus als notwendiger Ge- 
sellschaftsform teleologisch aus dem sittlichen Ziel 
im Diesseits und Jenseits, die Kirche als geistige 
Grundlage der denkbar vollkommensten sozialen 
Ordnung. Die dem Mittelalter eigene soziologische 
Grundauffassung besteht nach Gierke darin, daß 
die Gesellschaft wie „die gesamte Weltexistenz nur 
ein einziges, gegliedertes Ganze, jedes besondere 
Gemein= oder Einzelwesen aber zugleich ein durch 
den Weltzweck bestimmter Teil und ein mit einem 
Sonderzweck begabtes, engtres Ganze ist“. Diese 
unverlierbaren Leitideen haben, zumal in ihrer 
thomistischen Ausgestaltung, die bewundernde Zu- 
stimmung auch eines Ihering (Zweck im Recht 12 
161) gefunden. Im ausgehenden Mittelalter setzten 
bereits jene individualistischen Tendenzen der neu- 
zeitlichen Philosophie ein, welche durch die Ver- 
mehrung des historischen Wissens nicht ausgeglichen 
werden konnten. Einflußreicher als die universal- 
geschichtlichen Konzeptionen eines Vico, des be- 
deutsamsten Vorläufers moderner Soziologie, als 
die antikisierenden Utopien eines Thomas Morus 
und Campanella wurde zunächst die absolutistische 
Staatstheorie eines Machiavelli und Hobbes — 
der mit dem Worte „Sozialphilosophie“ auch die 
so bezeichnete Wissenschaft erst geschaffen haben 
will — und Rousseaus Lehre vom Gesellschaftsver- 
trag. Entsprechend mündete die neuere Geschichts- 
philosophie nach dem Vorausgang von Herder, 
Montesquien, Condorcet u. a. schließlich mit Hegel 
in der Verabsolutierung des Staates aus. Mit 
der universalen Gesellschaftsidee trat auch die Be- 
deutung der selbständigen Bevölkerungsgruppen 
zwischen Staat und Individuum (Montesquieus 
puissances intermédiaires) in den Hintergrund; 
sie ward vom absoluten Staate wie von der fran- 
zösischen Revolution auf ein geringes herabgedrückt. 
Das Buch der Juristen, der Förderer und zugleich 
Werkzeug des absoluten Staates, war das Corpus 
iuris. Es entstammt einer Zeit mit geringer oder 
höchstens unfreier gesellschaftlicher Entwicklung, 
mit schroffer Trennung von Privat= und öffent- 
lichem Recht. So kennen denn auch die Juristen 
der absolutistischen Zeit nur Privat= und Staats- 
recht und in letzterem nur Untertanen und Sou- 
verän. Diese Auffassung begleitete (entsprechend 
gewandelt) die Revolution und die politischen 
Anderungen der ersten Hälfte des 19. Jahrh. 
Man sprach nur vom obersten Willen und Han- 
deln der Staatsgewalt, und anderseits zählte man 
die Rechte der Staatsbürger auf und darunter 
gleich vor allem die Teilnahme an Bildung und 
Ausübung des Gesamtwillens. Alle Verbesserungs- 
wünsche bezogen sich auf die staatliche Gesamtheit; 
jede Veränderung der Staatsordnung wurde mit 
Spannung verfolgt. Als aber die Gesetzgebung im 
Sinne des einflußreich gewordenen dritten Standes 
abgeändert war und sich nun die Schattenseite 
einer ökonomisch stark zurückbleibenden Menge
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.