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Gesellschaftskreise einschränken im Interesse der Er-
haltung der Einheit des Gemeinwesens. Der
Staat steht insbesondere heutzutage über den durch
die Besitzverschiedenheit bedingten Parteiungen
und hat die Aufgabe, die sozialen Gegensätze nach
Möglichkeit zu mildern.
Staat und Gesellschaft wirken übrigens gegen-
seitig aufeinander ein. Durch das Mittel der
Gestaltung des öffentlichen und des Privatrechts
wirkt der Staat auf die Zusammensetzung und
Schichtung der Gesellschaft ein; man denke z. B.,
wie das Erbrecht des Code eivil die alte Gesell-
schaft vernichtete, oder wie staatliche Wahlord-
nungen die Richtung der (für die Gesellschaft so
wichtigen) Gesetzgebung zu beeinflussen vermögen.
Anderseits hängt der Staat in seiner Einrichtung
wieder sehr von der Beschaffenheit der Gesellschaft
ab, ja es gab Zeiten, wo die Gesellschaftskreise so
fest in sich organisiert waren und die Herstellung
des Gleichgewichtes so umfassend auf freiem Fuße
der Gewohnheit und Vereinbarung erfolgte, daß
für die staatliche Tätigkeit weniger Aufgaben blie-
ben als heutzutage.
Manchmal erstreckt sich die Interessenverflechtung
über den Staat hinaus. Kirchliche, wissenschaft-
liche, literarische und wirtschaftliche Zusammen-
hänge, nationale Verwandtschaften, große Parteien
und andere Interessengemeinschaften reichen über
Staaten hinweg.
IV. Gesellschaftswissenschaft. Man hat den
Inbegriff der Kenntnisse und Lehren von der Ge-
sellschaft Gesellschaftswissenschaft, Sozialphilo-
sophie oder (seit Comte) Soziologie genannt. Da
der Ausdruck Gesellschaft verschiedenes bezeichnet,
herrscht auch über Aufgabe und Umfang dieser
Wissenschaft große Meinungsverschiedenheit. Nicht
wenige Gelehrte leugnen die Zweckmäßigkeit ihres
selbständigen Ausbaues ganz und wollen die ein-
zelnen soziologischen Grundfragen, wie dies bis
ins 19. Jahrh. fast allgemein geschah, den an-
grenzenden Sonderdisziplinen vorbehalten, ins-
besondere der Rechts= und Staatsphilosophie,
Geschichtsphilosophie und theoretischen Volkswirt-
schaftslehre.
In der sozialphilosophischen Spekulation des
alten Griechenlands, bei den Sophisten, Plato
und Aristoteles, konzentriert sich das Interesse auf
den Staat und seine ideale Gestaltung, was aber
wichtigen soziologischen Grundeinsichten (z. B. be-
treffs der gesellschaftlichen Bedeutung der Familie,
der Arbeitsteilung, der umgebenden Natur usw.)
nicht im Wege stand. Die Vorstellung einer all-
umfassenden menschlichen Gesellschaft findet sich in
der antiken Philosophie nur ahnungsweise (bei
Zeno, Cicero, Seneca). Klargestellt wurde sie erst
durch das Christentum. Pauli Predigt zu Athen
gab den Grundgehalt einer universalen Sozial-
und Geschichtsphilosophie, die in Augustins Lehre
vom Gottesstaat ihre erste große Durchführung
fand. Die Denker des Mittelalters bauten mehr
die theoretische als die historische Seite einer christ-
Gesellschaft usw.
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lichen Gesellschaftslehre aus. Sie verstanden das
Wesen des Einzelmenschen als Gesellschaftsglied
und des Staatsorganismus als notwendiger Ge-
sellschaftsform teleologisch aus dem sittlichen Ziel
im Diesseits und Jenseits, die Kirche als geistige
Grundlage der denkbar vollkommensten sozialen
Ordnung. Die dem Mittelalter eigene soziologische
Grundauffassung besteht nach Gierke darin, daß
die Gesellschaft wie „die gesamte Weltexistenz nur
ein einziges, gegliedertes Ganze, jedes besondere
Gemein= oder Einzelwesen aber zugleich ein durch
den Weltzweck bestimmter Teil und ein mit einem
Sonderzweck begabtes, engtres Ganze ist“. Diese
unverlierbaren Leitideen haben, zumal in ihrer
thomistischen Ausgestaltung, die bewundernde Zu-
stimmung auch eines Ihering (Zweck im Recht 12
161) gefunden. Im ausgehenden Mittelalter setzten
bereits jene individualistischen Tendenzen der neu-
zeitlichen Philosophie ein, welche durch die Ver-
mehrung des historischen Wissens nicht ausgeglichen
werden konnten. Einflußreicher als die universal-
geschichtlichen Konzeptionen eines Vico, des be-
deutsamsten Vorläufers moderner Soziologie, als
die antikisierenden Utopien eines Thomas Morus
und Campanella wurde zunächst die absolutistische
Staatstheorie eines Machiavelli und Hobbes —
der mit dem Worte „Sozialphilosophie“ auch die
so bezeichnete Wissenschaft erst geschaffen haben
will — und Rousseaus Lehre vom Gesellschaftsver-
trag. Entsprechend mündete die neuere Geschichts-
philosophie nach dem Vorausgang von Herder,
Montesquien, Condorcet u. a. schließlich mit Hegel
in der Verabsolutierung des Staates aus. Mit
der universalen Gesellschaftsidee trat auch die Be-
deutung der selbständigen Bevölkerungsgruppen
zwischen Staat und Individuum (Montesquieus
puissances intermédiaires) in den Hintergrund;
sie ward vom absoluten Staate wie von der fran-
zösischen Revolution auf ein geringes herabgedrückt.
Das Buch der Juristen, der Förderer und zugleich
Werkzeug des absoluten Staates, war das Corpus
iuris. Es entstammt einer Zeit mit geringer oder
höchstens unfreier gesellschaftlicher Entwicklung,
mit schroffer Trennung von Privat= und öffent-
lichem Recht. So kennen denn auch die Juristen
der absolutistischen Zeit nur Privat= und Staats-
recht und in letzterem nur Untertanen und Sou-
verän. Diese Auffassung begleitete (entsprechend
gewandelt) die Revolution und die politischen
Anderungen der ersten Hälfte des 19. Jahrh.
Man sprach nur vom obersten Willen und Han-
deln der Staatsgewalt, und anderseits zählte man
die Rechte der Staatsbürger auf und darunter
gleich vor allem die Teilnahme an Bildung und
Ausübung des Gesamtwillens. Alle Verbesserungs-
wünsche bezogen sich auf die staatliche Gesamtheit;
jede Veränderung der Staatsordnung wurde mit
Spannung verfolgt. Als aber die Gesetzgebung im
Sinne des einflußreich gewordenen dritten Standes
abgeändert war und sich nun die Schattenseite
einer ökonomisch stark zurückbleibenden Menge