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zeigte, änderten sich die Ansichten über das Ge-
meinwesen. In den Augen der großen Massen
bzw. ihrer Stimmführer erschienen die Einrich-
tungen des Staates weniger wichtig. Sie wollten
eine Verbesserung und Anderung der Gesellschaft.
Der Staat schien nur Folge der gesellschaftlichen
Zustände und nur als Machtmittel von Bedeutung.
Aus diesem praktischen sozialen Reform= und
Revolutionsbestreben ward die moderne Sozio-
logie vornehmlich geboren. Eine zweite Haupt-
quelle bildet die mehr theoretische Einsicht in die
Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit der gesell-
schaftlichen Erscheinungen gegenüber den staat-
lichen, wie sie namentlich v. Mohl und Lorenz
v. Stein (gegen sie Treitschke), Riehl und der
Belgier Qustelet hervorhoben.
Dem Sozialisten Saint-Simon entnahm Aug.
Comte, der der Soziologie zuerst Namen und Pro-
gramm gab, den Begriff der Gesellschaft. Bei
Comte zeigt sich außerdem der Einfluß der in der
Neuzeit so mächtig aufblühenden, aber auch ihr
Gebiet überschreitenden Naturwissenschaften. Er
behandelt die sozialen Erscheinungen nach natur-
wissenschaftlicher Methode; er nennt die gesellschaft-
lichen Entwicklungsgesetze soziale Dynamik, die
Gesellschaft usw.
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wie sie vorwiegend individualpsychologisch Tarde
(unter starker Begriffserweiterung der „Nach-
ahmung“), Le Bon, Giddings, Patten, Tönnies,
Barth, Simmel u. a. unternommen haben; die
Völker= und Massenpsychologie von Lazarus und
Steinthal, Wundt u. a. beschäftigt sich namentlich
mit jenen höheren Geisteserzeugnissen des sozialen
Lebens, welche nicht den Menschen als einzelnen
betreffen und nicht vom einzelnen ausgehen, wie
Sprache, Sitte, Mythos, Moral, Religion usw.
Die Lehre von den mehr praktischen Sozialpro-
dukten (Recht und Wirtschaft) will Steinthal als
Soziologie im engeren Sinne von der Völker-
psychologie geschieden wissen. Eine Verbindung
von Völkerpsychologie und (Ur-)Geschichte stellen
jene ethnologischen Soziologien dar, welche na-
mentlich aus der Beobachtung der Naturvölker
Rückschlüsse versuchen auf die ursprünglichsten
Formen und Entwicklungsgesetze der menschlichen
Gesellschaft. Reiches Tatsachenmaterial hat gerade
in dieser Hinsicht Spencer gesammelt. Aber den
von ihm, Maine, Tylor, Morgan, Laveleye, Le-
tourneau, Gobineau, Steinmetz, Achelis, Vierkandt,
L. Stein u. a. konstruierten Entwicklungsgeschichten
haftet eine Fülle willkürlicher Annahmen und Ver-
Gesetze des gesellschaftlichen Zusammenlebens so= allgemeinerungen an (ogl. W. Schneider, Die
ziale Mechanik (bei andern Statik), und er fand Naturvölker, 2 Bde, 1885 ).
in der Vergleichung sozialer Vorgänge mit Natur-= Als die konsequenteste Durchführung einer ge-
erscheinungen, in der Zuhilfenahme naturwissen= schichtsphilosophischen Grundthese stellt sich die
schaftlicher Analogien nicht wenige Nachfolger ökonomische Soziologie dar, welche im Anschluß
(Darwin, Spencer, Carey, Schäffle, Lilienfeld, an Marx und Engels die gesamten sozialen, poli-
Novicow, de Greef, René Worms u. a.). tischen und geistigen Lebensprozesse als durch wirt-
Die von Herbert Spencer besonders betonten schaftliche Ursachen bedingt ansieht (ogl. auch d. Art.
biologischen Analogien, die schon bei Plato und Materialismus). Zeitgenössische Vertreter dieser
Aristoteles und in der bekannten Fabel des Me-Richtung sind Bernstein, Woltmann, L. M. Hart-
nenius Agrippa sich fanden, haben zur Bildung mann u. a. Gerade die materialistische Ausschal-
einer eigenen „organischen Methode“ in der So= tung jeder ethischen Gesellschaftsauffassung mußte
ziologie Anlaß gegeben. Aber man ist in der aber in der soziologischen Methodendiskussion,
Durchführung des Vergleichs viel zu weit ge= welche augenblicklich die Sachforschung fast in den
gangen und hat ihn so seines heuristischen Wertes Hintergrund drängt, zur verstärkten Einsicht in die
beraubt. Daneben dienen die organischen Gleich-
nisse auch zur verhüllten Einführung der unent-
behrlichen teleologischen Gesichtspunkte in die So-
ziologie (Bestimmung des einzelnen durch das
Ganze), wozu in ähnlicher Weise die mit deszen-
denztheoretischen Voraussetzungen verbrämte Ein-
führung von Begriffen, wie „Fortschritt, Anpas-
sung“ u. dgl., benutzt wird. Darwins Theorie von
der natürlichen Auslese suchten namentlich Gum-
plowicz, Ammon, Ratzenhofer, Kidd für die
Soziologie fruchtbar zu machen und neuestens ein
Kruppsches Preisausschreiben (Gesamtveröffent-
lichung unter dem Titel „Natur und Staat",
1903 ff), dessen Ergebnis aber den Bankrott aller
rein biologischen Gesellschaftslehre (ogl. F. Tön-
nies in Schmollers Jahrbuch 1907, 550) um so
klarer verdeutlicht hat.
Die von derbiologischen Richtung vernachlässigte
offenbare Wichtigkeit der seelischen Einzelvorgänge
und Wechselbeziehungen kommt zu einseitiger Gel-
tung in den psychologischen Fundierungsversuchen,
Unentbehrlichkeit teleologischer und ethischer Leit-
gedanken führen. Stammler betont (Die Gesetz-
mäßigkeit in Rechtsordnung und Volkswirtschaft,
1902): „Die soziale Geschichte ist eine Geschichte
von Zwecken“, und Durkheim schreibt dem Begriff
der Solidarität zentrale Bedeutung zu. Die hi-
storisch-ethische Schule in der Volkswirtschaft zeigt
gleiches positives und negatives Bestreben. Auch
die philosophischen Ethiker lassen sich die soziolo-
gischen Fragen immer mehr angelegen sein. Da-
mit ist immerhin auf vielen Linien eine gewisse
Wiederannäherung an die christliche Gesellschafts-
lehre gewonnen, die im 19. Jahrh. mehr praktische
Sozialpolitiker (ogl. die Art. Sozialismus und
Volkswirtschaftslehre) als universelle Philosophen
zu Vertretern hatte. Sozialphysik, -biologie, zpsy-
chologie, -ökonomik usw. können nur in einer
grundsatzsichern Sozialethik ihre folgerichtige
Vereinigung und systematische Klärung finden.
Allerdings ist bei dem widerspruchsvollen Wirr-
warr und Beziehungereichtum der soziologischen