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Richtungen eine einheitliche Zusammenfassung des
von einer jeden doch erbrachten wertvollen Ge-
danken- und Tatsachenmaterials derzeit dem ein-
zelnen noch so universellen Geiste kaum menschen-
möglich; erhofft werden kann sie nur auf dem
Grunde einer festen, alle Wesensbedingungen des
Menschen und der Gesellschaft überschauenden
Weltansicht, wie sie allein die christliche Philo=
sophie darbietet. "
Die volle wissenschaftliche Daseinsberechtigung
der Soziologie wäre erst bewiesen durch die Auf-
stellung eines zu allgemeiner Anerkennung elang
den Systems; heute ist, wie Loria (Soziologie
deutsch 1901) 11) feststellt, „noch nicht eine Linie
Wahrheit erreicht“, in welcher die Soziologen unter
sich einig wären.
Jene, welche die Existenzberechtigung einer be-
sondern Gesellschaftswissenschaft grundsätzlich be-
streiten, leugnen nicht die Tatsache, daß die Indi-
viduen der Staatsmacht nicht als Atome, sondern
als Zusammenhänge gegenüberstehen, daß die
Staatsmacht verschieden ist von den in ihrer Herr-
schaftssphäre befindlichen, bis zu einem gewissen
Grade in einem eigenen System von Beziehungen
stehenden freien Kräften. Sie behaupten aber die
Unzweckmäßigkeit, die diese Tatsache betreffenden
Kenntnisse zum Gegenstand einer eigenen Wissen-
schaft zu machen. Der Gegensatz von öffentlichem
und Privatrecht sei erschöpfend, wenn man unter
öffentlichem Rechte das Recht des Staates und der
Kirche verstehe, da alle übrigen Einrichtungen ent-
weder dem Staate oder der Kirche untergeordnet
seien. Eine Zusammenfassung der einschlägigen
Lehren in dem Sinne einer Gesamtwissenschaft
von den sozialen Erscheinungen sei wegen Stoff-
fülle unerreichbar.
Die Anhänger einer besondern Gesellschafts-
wissenschaft behaupten, eine solche erspare den ein-
zelnen sozialen Wissenschaften Wiederholungen;
gewisse allgemeine Sätze über psychische Massen-
zusammenhänge, Zustandsformen und geistige
Massenerscheinungen, über Moral, Sitte, Recht,
Staatsgewalt und Freiheitsrechte seien allen so-
zialen Doktrinen gemeinsam, würden in allen
solchen als Einleitung oder Hilfssätze vorgetragen.
Der Stoff einer besondern Gesellschaftswissenschaft
liege allerdings in verschiedenen Disziplinen zer-
streut, die jede für sich ein besonderes Dasein
haben, ohne daß sich ihre Bedeutung darin er-
schöpft. So hätten die Medizin und die Technik
das, was sie brauchten, aus den verschiedenen
Zweigen der Naturwissenschaften zusammenholen
müssen.
Jedenfalls beansprucht die Sonderbehandlung
der Gesellschaftsfragen besondere Vorsicht. Ein
einheitlicher Grundbegriff bildet die irssen
dafür, daß ein Gegenstand einer systematischen
Behandlung fähig sei. Das Verschiedene, Wech-
selnde, historisch Gewordene aber, was gewöhnlich
Gesellschaft heißt, gewinnt eine gewisse Einheit
nur durch den Gegensatz und die Beziehung zum
Gesellschaft usw.
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Staate. Auch aus dem Grunde müßte in einer
besondern Gesellschaftswissenschaft das Verhältnis
zum Staate sorgsam ausgeführt werden, weil ein
Absehen von der obersten Gewalt, eine Nicht-
berücksichtigung derselben ähnlich wie seinerzeit die
manchesterliche Staatsflucht, also reformlähmend
wirken könnte. Anderseits ist es den Gegnern
einer besondern Gesellschaftswissenschaft zuzugeben,
daß eine soziale Behandlung des Privat= und
öffentlichen Rechts manche Klage über Einseitig-
keit verstummen machen würde.
Selbst in dem Falle, daß es bei der alten Ein-
teilung der Rechts= und Staatswissenschaften ver-
bleibt und eine besondere Gesellschaftswissenschaft
sich nicht zu behaupten vermag, haben die Erör-
terungen hierüber und die zur Aufstellung einer
besondern Lehre gemachten Anstrengungen auf
vielen Feldern befruchtend gewirkt. Die Wissen-
schaft verdankt dieser Strömung viele schöne Unter-
suchungen über soziale Verhältnisse sowohl der
neueren Zeit (Riehl, Freytag, Le Play und der
wegen seines Hanges zum Materialismus mit
Vorsicht zu benutzende Buckle) als auch des Alter-
tums (Mommsen, Friedländer, Wallon). Rechts-
und Verfassungsgeschichte bauten Gneist und
v. Stein auf gesellschaftlicher Grundlage auf. Fer-
ner kann der Umschwung in der Behandlung der
politischen Okonomie vom Aufkommen der Sozial-
wissenschaft an (Verein für Sozialpolitik, Katheder-
sozialisten) gerechnet werden. Aus der Vereinze-
lung einer selbstgenügsamen Fachwissenschaft wurde
die Volkswirtschaftslehre, in der nicht wenige an-
gebliche Naturgesetze ihr Unwesen trieben, wieder
in Beziehung und Abhängigkeit gebracht von ver-
wandten höheren Disziplinen. Man wurde sich
wieder bewußt, daß es eine Volkswirtschaft außer-
halb der staatlichen Gemeinschaft nicht gibt. Diese
muß die Rechtsformen bieten, in denen allein sie
sich bewegen kann. Der Umschwung in der Volks-
wirtschaftslehre zeigte sich auch in ihrem Namen,
indem sie seither mit Absicht politische Okonomie
oder Sozialökonomie genannt wurde, um schon
im Titel eine Auffassung anzuzeigen, die, von den
Bedürfnissen der Gesamtheit ausgehend, die Wohl-
fahrt nicht wie bis dahin nur nach der Drodulten-
menge, sondern auch nach der Art der Verteilung
beurteilt.
V. Soziale Gesetze. Die methodische Grund-
frage für eine allgemeine Gesellschaftslehre wie
für alle ihre speziellen Zweige geht auf die Existenz
sozialer Gesetze. Bei Durchforschung der Erschei-
nungen des Gesellschaftslebens stieß man auf mit-
unter überraschende Gleichförmigkeiten und Zu-
sammenhänge und benannte diese, wohl unter dem
Einfluß der Naturwissenschaft (die den Ausdruck
Geset seinerzeit selbst entlehnt hatte), soziale Ge-
setze. Im allgemeinen heißt Gesetz eine Richtschnur
oder Norm, nach der ein Wesen zum Handeln an-
getrieben oder davon abgehalten wird; Gesetz heißt
dann auch die abstrakte wissenschaftliche Form, in
der jene Normen von den Gelehrten aufgestellt