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werden. Die Normen für das Handeln des Men-
schen sind, namentlich wegen der Doppelnatur des-
selben, verschiedener Art. Es gibt aus der Natur
der Dinge sich ergebende Regeln, welche die Men-
schen aus freien Stücken, mitunter unbewußt, zu
beobachten pflegen. Solche sind die Gesetze der
Malerei, Gesundheitspflege, Kriegskunst, Sprache.
Es gibt ferner von größeren und kleineren Gemein-
wesen für ihre Mitglieder zum Zweck des Gesamt-
wohls getroffene Vorschriften. So spricht man
denn auch in Bezug auf die für die Gesellschaft
wichtigen Gesetze nicht nur von Rechtsgesetzen (von
dazu berufenen Gewalten unmittelbar erlassene
Anordnungen), sondern auch von andern, sog. so-
zialen Gesetzen und Folgeregeln. Man nannte
nämlich in neuerer Zeit Gesetze auch gewisse Regel-
mäßigkeiten, Gleichförmigkeiten, die sich erfah-
rungsgemäß unter bestimmten Voraussetzungen
(also auch unter der Voraussetzung dieser oder jener
Rechtseinrichtung) im Handeln der Menschen zei-
gen. Solche Gesetze sollten die aus dem gesell-
schaftlichen Zusammen= und Gegeneinanderwirken
der Kräfte einzelner entstandenen Erfolge in ihren
festen Grundformen angeben und klar machen
(Rümelin).
Trotz großer Unterschiede in ihren Handlungen
sind die Menschen, sagte man, doch auch Wesen
gleicher Art, haben gleichartige Beweggründe und
Zwecke. Es ist daher nicht überraschend, daß sich
in der Aufeinanderfolge der gesellschaftlichen Er-
eignisse und Vorgänge regelmäßig wiederkehrende
Erscheinungen, gleichförmige Tatsachen zeigen,
offenbar als Wirkungen regelmäßig tätiger, glei-
cher oder gleichartiger Kräfte, so daß man in die
Lage kam, von einer gewissen Gesetzmäßigkeit zu
sprechen, auch wo Gesetze im Rechtssinne zunächst
nicht oder überhaupt nicht vorlagen. Die Wahr-
nehmung jedoch von jenem immer wieder gleich-
mäßigen Verhalten der einzelnen und ganzer Ge-
meinschaften unter bestimmten Voraussetzungen,
die Beobachtung, daß auch in den zunächst oft
zufällig und willkürlich scheinenden gesellschaftlichen
Ereignissen (Tod, Geburt, Ehe, Lebensdauer,
Preise, Verbrechen) eine erstaunliche Gleichmäßig-
keit walte, daß scheinbar unabhängige Dinge (wie
Zeiträume und Selbstmorde) in bleibenden Ver-
bindungen stehen, veranlaßte gar oft zu voreiliger
und unberechtigter Anwendung des Wortes „Na-
turgesetz“, ein Vorgehen, das sich besonders auf
dem Gebiete der Volkswirtschaftslehre schon frühe
eingebürgert und nicht geringen Schaden ange-
richtet hat.
Die in der Zeit des absolutistischen Staates
übliche Allregiererei nämlich erzeugte jene alle Ein-
mischung und „Bevormundung"“ der Regierung
ablehnende Stimmung und bahnte der physio-
kratisch-smithschen Lehre von der (allgemein gül-
tigen) Vorzüglichkeit des sich selbst überlassenen
Verkehrs die Wege. Die vom Ausgangspunkt des
wirtschaftlichen Selbstinteresses aus beobachteten
Regelmäßigkeiten nannte man Naturgesetze
Gesellschaft usw.
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und erklärte die Wirtschaft eines Volkes durch das
freie Wirken dieser am besten geregelt. Alle das
Selbstinteresse und damit jene Naturgesetze be-
schränkenden Vorschriften erschienen als künstliche
Eingriffe, die doch umgangen würden und be-
seitigt werden müßten. Diesen Lehren folgte die
Tat, die Durchführung der allseitigen Verkehrs-
freiheit, und es bedurfte erst vieler sich heraus-
stellenden Ubelstände und insbesondere auch erst
des Streites mit den Sozialisten, um der Er-
kenntnis der Abhängigkeit der Wirtschaft von der
jeweiligen Rechtsordnung zum Siege zu verhelfen.
Vorsichtigere hatten zwar betont, nur jene erklär-
baren fortlaufenden Regelmäßigkeiten als Natur-
gesetze gelten lassen zu wollen, die nicht auf mensch-
licher Absicht beruhen (Roscher); allein im Laufe
der Untersuchungen wurde dies (bei der langen
Vernachlässigung der juristischen Seite) zu wenig
festgehalten. — Manche wirtschaftliche Erschei-
nungen (3. B. der Ruin einzelner wirtschaftlichen
Stände) beruhen zunächst nicht auf menschlicher
Absicht, können aber regelmäßige Wirkungen ge-
wisser vermögensrechtlicher Gesetze sein, da sich ja
die ganze wirtschaftliche Tätigkeit zwar im ein-
zelnen unabhängig von staatlicher Einwirkung,
im großen und ganzen jedoch nur auf der von der
Rechtsordnung gegebenen und geschützten Grund-
lage vollzieht. Die Grenzen zwischen dem der
Rechtsordnung übergebenen und dem der freien
Sitte überlassenen Gebiete wechseln im Laufe der
Zeiten: zur Zeit des sog. absoluten Staates war
vieles durch Staatsvorschriften geregelt, was vor-
her und nachher den Gemeinschaften bzw. den ein-
zelnen überlassen blieb.
Naturgesetze erzeugen die ständige Wiederkehr
gleicher Erscheinungen als Wirkungen gleicher ele-
mentarer Ursachen; sie gelten ohne Ausnahme
für alles, was Materie ist; was ihnen unterworfen
ist, hat keine Freiheit. Solchen Naturgesetzen ist
auch der Mensch, soweit er Körper ist, nicht aber,
soweit er ein mit eigenem Willen handelndes ver-
nunftbegabtes Wesen ist, unterworfen. Solche
Naturgesetze gibt es für den Geist nur insofern,
als Denken und Erkennen an bestimmte Feststel-
lungen gebunden sind. Das gesellschaftliche Leben
dagegen unterliegt keinen solchen ausnahmslosen
Naturgesetzen. Sein äußeres Handeln regeln sog.
Freiheitsgesetze, die sich an die innere Ge-
sinnung durch die Vernunft wenden, die also nur
mittelbar auf das Tun der freien Person ein-
wirken. Die Aufstellung: „Das Verhalten der
Gruppe ist berechenbar, das des einzelnen un-
berechenbar“, hat zu dem bedenklichen Satze ge-
führt: „Folglich unterliegt der einzelne mora-
lischen, die Gesellschaft Naturgesetzen."
Soweit in den Handlungen der in sozialer Ge-
meinschaft lebenden Menschen aus freien Stücken
unter bestimmten Voraussetzungen sich Regelmäßig-
keiten bilden und Gesetze genannt werden, meint
man damit den Umstand, daß gewisse (insbeson-
dere in großer Zahl und Massenhaftigkeit auf-