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ling') sein. Obwohl aber in alten Zeiten die
Maurer in jedem Lande verpflichtet wurden, der
Religion dieses Landes oder dieser Nation anzu-
gehören, welche immer es sein mochte, so wird es
jetzt für zweckmäßiger erachtet, sie nurmehr zu jener
Religion zu verpflichten, in der alle Menschen
übereinstimmen, wobei ihre besondern Meinungen
ihnen selbst überlassen bleiben, d. h. sie sollen gute
und wahrhaftige (true) Männer sein, Männer
von Ehrenhaftigkeit und Rechtschaffenheit, durch
was immer für Benennungen oder Überzeugungen
sie sich unterscheiden mögen. Hierdurch wird die
Maurerei zum Einigungsmittelpunkt und zum
Werkzeug, wahre Freundschaft zwischen Personen
zu stiften, die (sonst) in immerwährender Ent-
fernung voneinander hätten bleiben müssen.“ —
In der zweiten Ausgabe des Konstilutionsbuches
(1738) wird schon in der vorgedruckten Widmung
und nochmals im Text der ersten „Alten Pflicht“
die „Gewissensfreiheit“ ausdrücklich betont. Das
freimaurerische Sittengesetz wird ferner als noa-
hidisches gekennzeichnet, d. h. als das vorchristliche
und vormosaische des ungeteilten Menschenge-
schlechts. Der nichtchristliche naturalistische Cha-
rakter der neuen „spekulativen“ Freimaurerei ist
auch durch die Weglassung der Anrufung der aller-
heiligsten Dreifaltigkeit bezeugt, mit welcher, wie
Hughan, der bedeutendste freimaurerische Forscher,
speziell hierüber feststellt (Chr. 19011284), sämt-
liche „gotischen“ Werkmeister-Konstitutionen be-
ginnen, und durch die auf dem Titelblatt der neuen
Konstitutionen zuerst auftretende Zeitrechnung:
In the year of Masonry 5723 anstatt A. D.
1723. Er ist ferner in der den ersten Ausgaben
einverleibten „Geschichte“ des Bundes, von Adam
ab, ausgesprochen. In diese sonst völlig abge-
schmackte Geschichte kommt nur einigermaßen Sinn
und Verstand, wenn man sie als eine allegorische
Einschärfung des kosmopolitisch allgemeinmensch-
lichen, religiös neutralen (unsectarian) Charakters
der Freimaurerei oder des freimaurerischen Hu-
manitätsprinzips im Sinne des Art. 1 der „Alten
Pflichten“ auffaßt. Insbesondere ist auch die ten-
denziöse Anpreisung des „Augustischen“ Baustils
auf Kosten des „gotischen“ als Verherrlichung
des „humanistischen“, rein= und allgemeinmensch-
lichen Prinzips gegenüber dem christlichen und die
Identifizierung der Freimaurerei mit der „Geo-
metrie“ als Betonung des „naturalistischen“
Charakters der Freimaurerei nach Prinzip und
Methode aufzufassen. Interessant in letzterer Hin-
sicht ist, daß bereits in einer alten freimaurerischen
Schrift des 18. Jahrh. die „geometrische Denk-
und Deduktionsmethode bei Entstehung der Wahr-
heit“", als „natürliche Logik“, auch in ihrer
Anwendung auf die „Moral= und Religions-
wissenschaft“ als die wahrhaft freimaurerische,
für die, welche in der Freimaurerei Karriere
machen wollen, ganz besonders empfohlen wird
(G. Oliver, The Golden Remains II [Lond.
1847] 301 fs.
Gesellschaften, geheime.
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Auf Grund des so interpretierten Art. 1 der
„Alten Pflichten“ erscheint, wie schon Lessing
(Ernst und Falk) ausführt, als Hauptaufgabe der
Freimaurerei, die in der Menschheit vorhandenen
Trennungen und Gegensätze, besonders religiöser,
aber auch sozialer Art, durch die Pflege des Rein-
und Allgemeinmenschlichen soviel als möglich zu
beseitigen und so die menschliche Glückseligkeit
im freundschaftlichen Zusammenleben der bis-
her durch religiöse, Rassen--, Standes-, Geburts-
und sonstige „Vorurteile“ voneinander Getrennten
zu fördern. Die freimaurerischen Grundsätze wer-
den hauptsächlich in den Stichworten: Humanität,
Kosmopolitismus, Toleranz (Duldung), Neu-
tralität (unsectarian), Dogmenlosigkeit und Ge-
wissensfreiheit, Philanthropie und Wohltätigkeit
zusammengefaßt. Im freimaurerischen Sinne be-
sagen diese Worte: Das Heil der Welt, das Geheim-
nis der Lösung der die Welt bewegenden Fragen
liegt nicht in Glaubenssätzen, im Beharren bei der
hergebrachten Religion und sonstigen auf zufälligen
Unterschieden der Geburt (dynastischen, Adels-
und sonstigen Vorrechten), der Rasse, der sozialen
Stellung und der Religion beruhenden Institu-
tionen. Die Zerklüftung der menschlichen Gesell-
schaft durch diese Institutionen ist vielmehr der
Hauptmißstand, welcher zur Herbeiführung der
Ara menschlicher Glückseligkeit vor allem behoben
werden muß. Den bestehenden Religionen, welchen
die Hauptschuld an dieser Zerklüftung der Mensch-
heit zugeschrieben wird, und an ihrer Spitze der
römisch-katholischen, wird die freimaurerische „Re-
ligion, in der alle Menschen übereinstimmen“
(Art. 6, 2 der „Alten Pflichten“ im Text 1723
und Art. 6, 1 im Text 1738), als die wahrhaft
„katholische“ (catholick), im Wandel der Zeiten
sich stets gleichbleibende, als das unveränderliche
Wesen der Religion gegenübergestellt. Das Un-
maurerische an den historischen Religionen wird
als „Obskurantismus“, „Aberglaube“, „Ultra-
montanismus“, „Klerikalismus“, „Muckertum“
(bigotry) usw. bekämpft. Im echt freimaurerischen
Sinne beschränkt sich die Religion auf das rein-
und allgemeinmenschliche Sittengesetz, welches die
Autonomie des menschlichen Gewissens und die
natürlichen „Menschenrechte“ zur Grundlage und
„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ zum
Hauptgegenstand hat. Die Triebfedern der Furcht
und Hoffnung, „Bevormundung“ durch die
Kirche usw. werden als Beeinträchtigungen der
Menschenwürde und wahrer Sittlichkeit abgelehnt.
In diesem Sinne werden freimaurerisch auch die
„göttlichen“ Tugenden: Glaube, Hoffnung und
Liebe, und die vier Kardinaltugenden gedeutet.
Dieses Sittengesetz kann kaum prägnanter gekenn-
zeichnet werden als durch die Tatsache, daß der
revolutionäre Schwärmer Garibaldi von Frei-
maurern der verschiedensten Richtungen, auch in
England, Nordamerika und Deutschland, mit einer
sonst kaum dagewesenen begeisterten Ubereinstim-
mung als „Held zweier Welten“ und Ideal eines