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echten Freimaurers und sogar in Gegenwart des
Br.-. Kaiser Wilhelm I., auf einem internatio-
nalen Freimaurerkongreß in Mailand 1875, als
„das Musterbild aller maurerischen Tugenden“
gefeiert wurde (Bauhütte 1875, 359).
Gegen den „Atheismus“ wird in Art. 1 der
„Alten Pflichten“ nur insoweit Stellung genom-
men, als es unbedingt geboten war, um den Frei-
maurerbund nicht von vornherein als eine offen
atheistische Vereinigung zu diskreditieren. Es ist
darin nicht klar ausgesprochen, daß Atheismus
vom Freimaurerbund ausschließe, sondern nur
die Erwartung ausgedrückt, daß der Freimaurer
kein „törichter“ (stupid) Atheist und kein „ruch-
loser“ Freigeist sein werde, d. h. daß er nicht in
stumpfsinniger Weise einem dogmatisch-materiali-
stischen, aller Ideale baren Atheismus huldige oder
durch beschränkt aufdringliche Vertretung desselben
die religiösen Empfindungen Andersdenkender mit
mutwilliger Roheit verletze. Und selbst bezüglich
eines solchen „stumpfsinnigen Atheisten“ begnügt
sich der Art. 1 mit der rein platonischen Fest-
stellung, daß er die „Kunst nicht recht verstehe“.
Unter „Kunst" ist hier zweifelsohne die eigentliche
Arbeitsmethode der Freimaurerei zu verstehen.
Diese Arbeitsmethode besteht darin, daß die Frei-
maurerei unter Anpassung an das jeweilige Ent-
wicklungsstadium der zu bearbeitenden Mitglieder
und Volkskreise, durch Ausbreitung und Geltend-
machung der freimaurerischen Grundsätze, „im
stillen, möglichst unauffällig“ zunächst eine all-
mähliche Umgestaltung der Anschauungen und
Sitten in ihrem Sinne zu bewirken sucht, um so
den Boden für entsprechende Reformen betreffend
die politisch-sozial -religiöse Regeneration der
menschlichen Gesellschaft systematisch vorzubereiten.
Diesem Arbeitsplan gemäß finden Leute der ver-
schiedensten religiösen und politischen Richtungen
Aufnahme; ferngehalten werden nur solche, welche,
wie z. B. „Ultramontane“, d. h. überzeugungs-
treue Katholiken, der „Erziehung“ zum freimaure-
rischen Humanitätsideal von vornherein unzugäng-
lich erscheinen. Die ausgenommenen Mitglieder
werden angewiesen, durch selbständiges Studium
der freimaurerischen Grundsätze und Symbolik sich
mehr und mehr von den „Vorurteilen“ der „pro-
fanen“ Welt zu befreien und in das Geheimnis
der „königlichen Kunst“ immer tiefer einzudringen,
d. h. das freimaurerische Humanitätsprinzip in
seiner theoretischen Tragweite und seinen praktischen
Folgerungen immer vollständiger zu erfassen. Beie
einer solchen Arbeitsmethode begreift man, daß
ein „stupider“ Atheist als enfant terrible äußerst
störend wirken müßte. Die „Kunst“ erfordert viel-
mehr, daß der Freimaurerbund den offenen Bruch
mit den religiösen Anschauungen der Umgebung
vermeide und freisinnigere Anschauungen nicht
durch radikale Beseitigung, sondern durch allmäh-
liche Umdeutung der religiösen Symbole: Welt-
baumeister, Bibel, Allsehendes Auge usw., zur Gel-
tung bringe. Mit dieser Auffassung von der „könig-
Gesellschaften, geheime.
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lichen Kunst"“ steht auch die freimaurerische Praxis
im Einklang. Denn sämtliche Richtungen des Frei-
maurerbundes, auch die angeblich „christlichen“ und
anscheinend streng gottes= und bibelgläubigen,
begnügen sich amtlich damit, daß die Weltenbau-
meisterformel, das Bibelsymbol usw. nicht formell
über Bord geworfen werden, indem sie ausdrück-
lich erklären, daß es im übrigen jedem Freimaurer
völlig freistehe, sich darunter vorzustellen, was ihm
beliebe. Demgemäß wird z. B. im „Allg. Handb.
der Freimaurerei“ (11. 231) die Religion auf die
zwei Gefühle zurückgeführt: „Gottesfurcht“, d. h.
das Gefühl der Abhängigkeit „gegenüber den über-
legenen Mächten des Weltlaufes“, und „Gottver-
trauen“, d. h. die „Zuversicht“, „daß alles Wirk-
liche aus dem Guten stamme, und was geschieht,
zum Besten dienen müsse“. Dieses Handbuch dient
nicht nur den Freimaurern deutscher Zunge als
maßgebendstes Nachschlagebuch, sondern wird auch
von allen ernsthafteren freimaurerischen Forschern
englischer Zunge als die weitaus beste Enzyklo-
pädie der Freimaurerei (AOC XI 64) bezeichnet.
Ein italienischer Freimaurerkongreß stellte noch am
20. Sept. 1908 (Riv. 1908, 310) fest, daß das
Weltenbaumeistersymbol in keiner Weise dogma-
tisch sei, sondern nur das zu erstrebende menschliche
Zivilisationsideal darstelle. Viele andere deutsche
und sozusagen sämtliche französischen Freimaurer,
auch die mit den Berlinern Großlogen verbrüderten
von der Großloge von Frankreich, sprechen offen
aus (Signale 1904, 54, 74; 1905, 27 usw.),
daß der biblische und kirchliche Gottesbegriff ein
von der Wissenschaft längst abgetaner „Anthropo=
morphismus“ sei, und daß der wahre Gott oder
das „Göttliche“ nicht ein außerweltlicher Schöpfer,
sondern das innermenschliche „Ideal des Wahren,
Guten und Schönen“" sei, das der Mensch oder die
Menschheit sich selber bilde, und welches besonders
in der Stimme des Gewissens oder im Sittengesetz
zum Ausdruck komme. Damit wird dem biblischen
Gott, der den Menschen nach seinem Ebenbilde er-
schuf, ein Gott entgegengestellt, welchen der Mensch
sich selbst nach „seinem“ Ebenbilde formt. Dieser
Gottesglaube, wird weiter erklärt, ist so weit vom
„Atheismus“ entfernt, daß er vielmehr nur eine
höhere Stufe der Gotteserkenntnis und -verehrung
darstellt. Abgesehen von Narren, so bemerken
„atheistische“ französische Freimaurer, kann es über-
haupt keine Atheisten geben, da kein mit Verstand
begabter Mensch im Ernste seine Abhängigkeit von
überlegenen Naturgewalten oder das Bestehen von
Idealen leugnen könne. Im Lichte dieser freimaure-
rischen Grundsätze und „Kunst“ regeln erscheinen
die viel Staub aufwirbelnden Streitigkeiten zwi-
schen verschiedenen freimaurerischen Großlogen be-
züglich des Gottesglaubens, besonders seit 1877,
im Grunde mehr oder minder als Wortklaubereien.
Sachlich hatte der Großorient von Frankreich vom
freimaurerischen Standpunkte ganz recht, wenn er
am 13. Sept. 1877 „die absolute Gewissensfreiheit
und die menschliche Solidarität“ als die leitenden