Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

573 
Fundamentalgrundsätze der Freimaurerei erklärte 
(Bull. 1877, 236/270). Durch den weiteren Be- 
schluß vom 10. Sept. 1878, gemäß welchem auch die 
Weltenbaumeisterformel, das Bibelsymbol, das All- 
sehende Auge usw. beseitigt werden sollten (Bull. 
1878, 360/366), beging er allerdings einen groben 
„Kunst"fehler. Der namentlich in den letzten Jahr- 
zehnten in Deutschland im Vordergrund stehende 
Kampf zwischen „christlicher“ und „Humanitäts“= 
freimaurerei ist ebenfalls größtenteils bloßer Wort- 
streit. Denn wenn die leitenden Kreise der Berliner 
Großlogen, „Drei Weltkugeln“ und „Landesloge“, 
am „christlichen Prinzip“ festhalten, unterlassen 
sie es nicht, immer wieder die „Dogmenlosigkeit“ 
ihres angeblichen Christentums zu betonen. Chri- 
stus kommt für sie nur als „Mensch“, Vorbild 
und Lehrer des Humanitätsprinzips im freimaure- 
rischen Sinne, in Betracht, als Verkünder des Ge- 
setzes der allgemeinen Liebe und Duldung. In 
diesem Sinne können aber auch Humanitätsmaurer 
Christus als den „hervorragendsten“ Lehrer der 
Humanität gelten lassen (Herold 1903, Nr 14, u. 
Signale 1902, 44 ff, 54). Als ganzer Unterschied 
bleibt übrig, daß die „christlichen“ Maurer Chri- 
stus als den „Erfinder“ der freimaurerischen Hu- 
manitätslehreerklären, während die „Humanitäts"= 
maurer die Humanitätslehre als allgemeinmensch- 
liche auch dem Ursprunge nach auffassen. Selbst der 
ehemalige Ordensmeister der „christlichsten“ deut- 
schen Großloge („Landesloge"), der in allen Logen- 
kreisen der Weltalsvorbildlicher Freimaurer gefeierte 
deutsche Kronprinz Friedrich Wilhelm, erklärte auf 
dem Logen-Kaiserfest in Straßburg (12. Sept. 
1886) in einer programmatischen Rede: „Zwei 
Grundsätze bezeichnen aber vor allem unser Streben: 
Gewissensfreiheit und Duldung“ (Bartholdi, Be- 
richt 18). Damit bezeichnete er, ganz wie der 
Großorient von Frankreich, „Gewissensfreiheit und 
Duldung“ als den eigentlichen „Grundpfeiler der 
Freimaurerei“ (Allg. Handbuch II5 200). Wenn 
viele auch äußerlich hervorragende Freimaurer 
und selbst Großlogen entgegengesetzte Anschauungen 
aussprechen, wenn z. B. Br.-, König Wilhelm I. 
in Solingen (15. Juni 1853) die Freimaurerei als 
ein „christliches Institut“ erklärte oder viele ameri- 
kanische Großlogen von den ihnen untergebenen 
Freimaurern sogar den Glauben an die göttliche 
Inspiration der Bibel forderten (G. W. Chase, 
Digest of mas. law [Bost. 1866 206/210), so 
darf uns dies nicht irremachen. Denn es ist eine oft 
auch von ersten freimaurerischen Autoritäten her- 
vorgehobene Tatsache, daß in weitesten Freimaurer- 
kreisen eine erstaunliche, ja unglaubliche Unkenntnis 
über freimaurerische Dinge herrscht, die sich wieder 
aus Zweck, Zusammensetzung und Organisation 
des Freimaurerbundes erklärt. Der Freimaurer- 
bund verfolgt wesentlich eine erziehliche Aufgabe 
und umfaßt, gleich jeder Erziehungsanstalt, Zög- 
linge von verschiedener Begabung und verschiedenen 
Entwicklungsstufen. Die freimaurerischen rückstän- 
digen Elemente können nach Umständen 90 % und 
  
Gesellschaften, geheime. 
  
574 
mehr aller Bundesmitglieder ausmachen. Nicht bloß 
höchste Würdenträger des Bundes, wie z. B. nach 
seinem eigenen Eingeständnis König Eduard VII. 
von England (Wanner, Gesch. der Loge Fried- 
rich zum weißen Pferde im Orient von Han- 
nover [1896 172), sondern ganze Logen und 
Großlogen können als solche Unwissende oder Rück- 
ständige mitlaufen. Allen diesen rückständigen 
Elementen läßt der Bund ihre Meinungen und die 
Freiheit, dieselben zu äußern. Dabei nimmt das 
Erziehungswerk zum freimaurerischen Humanitäts- 
ideal hin doch seinen Fortgang. Dafür ist durch 
die amtlich festgelegten Grundsätze und die ganze 
Organisation des Bundes hinlänglich gesorgt. 
Kraft derselben fördern auch persönlich Anders- 
denkende tatsächlich schon durch ihre Mitgliedschaft 
und dadurch, daß sie, teils ohne es zu merken, 
unter dem geistigen Einfluß der intelligenteren, 
zielbewußten Freimaurer stehen und „arbeiten“, 
die wahren Ziele des Bundes. 
Die allgemein, selbst im hochpolitischen Groß- 
orient von Italien, übliche Versicherung, daß der 
Freimaurerbund als „neutrale" (unsectarian) Ge- 
sellschaft sich nicht mit Religion und Politik befasse 
und somit in keiner Weise sich gegen die bestehen- 
den Religionen und Staatsordnungen richte, ent- 
spricht wohl dem formellen Logenrecht, welches hier, 
gemäß dem Zeugnis hervorragender Freimaurer 
. B. Bull. du Grand Orient de France 1886, 
545), absichtlich so gefaßt ist, daß es „das ableug- 
net, was die wesentliche, ja einzige wahre Aufgabe 
des Bundes ist“, — aber keineswegs den Tatsachen. 
In Wirklichkeit untergräbt der Freimaurerbund 
sowohl bei seinen Mitgliedern als durch diese in 
der Außenwelt, zwar meist in stiller und unauf- 
fälliger, aber gerade deshalb in um so sicherer und 
wirksamerer Weise, als wesentlich kosmopolitisch- 
internationaler Geheimbund, systematisch alle reli- 
giösen ÜUberzeugungen und Religionen und alle 
kirchlichen, staatlichen und sozialen Institutionen, 
soweit sie nicht mit der freimaurerischen „Universal= 
religion“ oder dem rein= und allgemeinmensch- 
lichen Sittengesetz im dargelegten Sinne des Art. 1 
der „Alten Pflichten“ im Einklang stehen. Die 
neue gesellschaftliche Ordnung, wie sie sich streng 
logisch aus dem freimaurerischen Humanitäts- 
prinzip ergibt, deckt sich in den Hauptlinien mit 
deninden Menschenrechten ausgesprochenen Grund- 
sätzen der französischen Revolution von 1789 und 
mit dem Zukunftsideal der positivistischen frei- 
maurerischen Weltrepublik, wie es von der fran- 
zösischen und italienischen Freimaurerei in unsern 
Tagen offen angestrebt wird. 
2. Entwicklung der Freimaurerei seit 
1717 und ihr heutiger Bestand. 1717 
scheint nur eine einzige Aufnahmezeremonie mit 
verhältnismäßig dürftiger Symbolik üblich ge- 
wesen zu sein, durch welche der Maurerlehrling 
zum Genossen (kellow) der Brüderschaft wurde. 
1723 waren schon drei Zeremonien im Gebrauch, 
von denen die dritte aber erst nach 1730 allgemein 
— 
S—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.