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Fundamentalgrundsätze der Freimaurerei erklärte
(Bull. 1877, 236/270). Durch den weiteren Be-
schluß vom 10. Sept. 1878, gemäß welchem auch die
Weltenbaumeisterformel, das Bibelsymbol, das All-
sehende Auge usw. beseitigt werden sollten (Bull.
1878, 360/366), beging er allerdings einen groben
„Kunst"fehler. Der namentlich in den letzten Jahr-
zehnten in Deutschland im Vordergrund stehende
Kampf zwischen „christlicher“ und „Humanitäts“=
freimaurerei ist ebenfalls größtenteils bloßer Wort-
streit. Denn wenn die leitenden Kreise der Berliner
Großlogen, „Drei Weltkugeln“ und „Landesloge“,
am „christlichen Prinzip“ festhalten, unterlassen
sie es nicht, immer wieder die „Dogmenlosigkeit“
ihres angeblichen Christentums zu betonen. Chri-
stus kommt für sie nur als „Mensch“, Vorbild
und Lehrer des Humanitätsprinzips im freimaure-
rischen Sinne, in Betracht, als Verkünder des Ge-
setzes der allgemeinen Liebe und Duldung. In
diesem Sinne können aber auch Humanitätsmaurer
Christus als den „hervorragendsten“ Lehrer der
Humanität gelten lassen (Herold 1903, Nr 14, u.
Signale 1902, 44 ff, 54). Als ganzer Unterschied
bleibt übrig, daß die „christlichen“ Maurer Chri-
stus als den „Erfinder“ der freimaurerischen Hu-
manitätslehreerklären, während die „Humanitäts"=
maurer die Humanitätslehre als allgemeinmensch-
liche auch dem Ursprunge nach auffassen. Selbst der
ehemalige Ordensmeister der „christlichsten“ deut-
schen Großloge („Landesloge"), der in allen Logen-
kreisen der Weltalsvorbildlicher Freimaurer gefeierte
deutsche Kronprinz Friedrich Wilhelm, erklärte auf
dem Logen-Kaiserfest in Straßburg (12. Sept.
1886) in einer programmatischen Rede: „Zwei
Grundsätze bezeichnen aber vor allem unser Streben:
Gewissensfreiheit und Duldung“ (Bartholdi, Be-
richt 18). Damit bezeichnete er, ganz wie der
Großorient von Frankreich, „Gewissensfreiheit und
Duldung“ als den eigentlichen „Grundpfeiler der
Freimaurerei“ (Allg. Handbuch II5 200). Wenn
viele auch äußerlich hervorragende Freimaurer
und selbst Großlogen entgegengesetzte Anschauungen
aussprechen, wenn z. B. Br.-, König Wilhelm I.
in Solingen (15. Juni 1853) die Freimaurerei als
ein „christliches Institut“ erklärte oder viele ameri-
kanische Großlogen von den ihnen untergebenen
Freimaurern sogar den Glauben an die göttliche
Inspiration der Bibel forderten (G. W. Chase,
Digest of mas. law [Bost. 1866 206/210), so
darf uns dies nicht irremachen. Denn es ist eine oft
auch von ersten freimaurerischen Autoritäten her-
vorgehobene Tatsache, daß in weitesten Freimaurer-
kreisen eine erstaunliche, ja unglaubliche Unkenntnis
über freimaurerische Dinge herrscht, die sich wieder
aus Zweck, Zusammensetzung und Organisation
des Freimaurerbundes erklärt. Der Freimaurer-
bund verfolgt wesentlich eine erziehliche Aufgabe
und umfaßt, gleich jeder Erziehungsanstalt, Zög-
linge von verschiedener Begabung und verschiedenen
Entwicklungsstufen. Die freimaurerischen rückstän-
digen Elemente können nach Umständen 90 % und
Gesellschaften, geheime.
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mehr aller Bundesmitglieder ausmachen. Nicht bloß
höchste Würdenträger des Bundes, wie z. B. nach
seinem eigenen Eingeständnis König Eduard VII.
von England (Wanner, Gesch. der Loge Fried-
rich zum weißen Pferde im Orient von Han-
nover [1896 172), sondern ganze Logen und
Großlogen können als solche Unwissende oder Rück-
ständige mitlaufen. Allen diesen rückständigen
Elementen läßt der Bund ihre Meinungen und die
Freiheit, dieselben zu äußern. Dabei nimmt das
Erziehungswerk zum freimaurerischen Humanitäts-
ideal hin doch seinen Fortgang. Dafür ist durch
die amtlich festgelegten Grundsätze und die ganze
Organisation des Bundes hinlänglich gesorgt.
Kraft derselben fördern auch persönlich Anders-
denkende tatsächlich schon durch ihre Mitgliedschaft
und dadurch, daß sie, teils ohne es zu merken,
unter dem geistigen Einfluß der intelligenteren,
zielbewußten Freimaurer stehen und „arbeiten“,
die wahren Ziele des Bundes.
Die allgemein, selbst im hochpolitischen Groß-
orient von Italien, übliche Versicherung, daß der
Freimaurerbund als „neutrale" (unsectarian) Ge-
sellschaft sich nicht mit Religion und Politik befasse
und somit in keiner Weise sich gegen die bestehen-
den Religionen und Staatsordnungen richte, ent-
spricht wohl dem formellen Logenrecht, welches hier,
gemäß dem Zeugnis hervorragender Freimaurer
. B. Bull. du Grand Orient de France 1886,
545), absichtlich so gefaßt ist, daß es „das ableug-
net, was die wesentliche, ja einzige wahre Aufgabe
des Bundes ist“, — aber keineswegs den Tatsachen.
In Wirklichkeit untergräbt der Freimaurerbund
sowohl bei seinen Mitgliedern als durch diese in
der Außenwelt, zwar meist in stiller und unauf-
fälliger, aber gerade deshalb in um so sicherer und
wirksamerer Weise, als wesentlich kosmopolitisch-
internationaler Geheimbund, systematisch alle reli-
giösen ÜUberzeugungen und Religionen und alle
kirchlichen, staatlichen und sozialen Institutionen,
soweit sie nicht mit der freimaurerischen „Universal=
religion“ oder dem rein= und allgemeinmensch-
lichen Sittengesetz im dargelegten Sinne des Art. 1
der „Alten Pflichten“ im Einklang stehen. Die
neue gesellschaftliche Ordnung, wie sie sich streng
logisch aus dem freimaurerischen Humanitäts-
prinzip ergibt, deckt sich in den Hauptlinien mit
deninden Menschenrechten ausgesprochenen Grund-
sätzen der französischen Revolution von 1789 und
mit dem Zukunftsideal der positivistischen frei-
maurerischen Weltrepublik, wie es von der fran-
zösischen und italienischen Freimaurerei in unsern
Tagen offen angestrebt wird.
2. Entwicklung der Freimaurerei seit
1717 und ihr heutiger Bestand. 1717
scheint nur eine einzige Aufnahmezeremonie mit
verhältnismäßig dürftiger Symbolik üblich ge-
wesen zu sein, durch welche der Maurerlehrling
zum Genossen (kellow) der Brüderschaft wurde.
1723 waren schon drei Zeremonien im Gebrauch,
von denen die dritte aber erst nach 1730 allgemein
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