Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

599 Gesetzesauslegung. 600 
kommission (preuß. Allgem. Landrecht Einl. §8 47, lange Rechtsübung und hat gleichfalls allgemein 
48) richten. Eine gewisse Gewähr für zweckent- verbindliche Kraft, wenn dies nicht ausdrücklich 
sprechende, sachgemäße Interpretation bildet gegen= durch eine gesetzliche Bestimmung, wie z. B. durch 
wärtig immerhin auch der Bestand eines Instanzen- 8 10 des österreichischen Allg. B.G.B. insoweit 
zuges, wonach die Überprüfung einer erstrichter= ausgeschlossen ist (consuetudo optima legum 
lichen Entscheidung durch die höheren Gerichie interpres), als sich ein Gesetz nicht darauf 
Möglich ist. Interessant ist, nebenbei bemerkt, das beruft. 
den amerikanischen Gerichtshöfen grundgesetzlich Wesentlich verschieden von der Legalinterpre= 
zustehende Recht, ein Gesetz, das nach ihrer Uber= tation (schon deshalb, weil sie nicht so wie diese 
zeugung der Verfassung nicht ganz entspricht, ein= bindend ist und nur gemäß der Gewichtigkeit ihrer 
fach nicht anzuwenden. inneren Gründe verpflichtet) ist die wissenschaft- 
Der eigentlichen Gesetzesauslegung hat nötigen= liche, lehrhafte oder scholastische, die sog. doktrinelle 
falls die sog. Kritik vorauszugehen; sie muß Interpretation (scire leges non hoc est verba 
grundlegend festsetzen, ob eine Rechtsurkunde als earum tenere, sed vim ac potestatem, 1. 17 
Ganzes überhaupt echt, authentisch ist („höhere Dig. de leg. 1, 3). Man teilt dieselbe ein nach 
Kritik“) oder ob einzelne Stellen derselben ge= den von ihr benutzten Mitteln und beschrittenen 
nügend glaubwürdig und zuverlässig sind („nie= Operationswegen. Dieselbe kann danach eine 
dere Kritik“, Untersuchung des vom Gesetzgeber grammatische oder eine logische Auslegung sein. 
gewollten Wortlauts). Die grammatische Auslegung verfährt analytisch, 
Dies alles vorausgeschickt, erblicken wir in der indem sie (a posteriori) nach den Regeln des 
Gesetzesauslegung nicht sowohl die Auf- Sprachgebrauchs, nach der philologischen Wort- 
hebung von Unklarheiten, Aufklärung von Dunkel= bedeutung auf den Willen des Gesetzgebers schließt. 
heiten, Löfung von Zweideutigkeiten, was ja nur Die logische Interpretation arbeitet dagegen nach 
ein engbegrenztes, seltener sich öffnendes Arbeits= synthetischer Methode (a priori) und legt idealere 
gebiet darstellen würde, als vielmehr (wie der Mittel zugrunde; sie erforscht den Sinn eines 
große Berliner Rechtslehrer Savigny definiert) Gesetzes nicht aus dessen Worten, sondern teils 
die Darlegung des Gesetzesinhaltes, die Aus= aus den legislatorischen Motiven (ratio legis) 
lösung und Rekonstruktion des einer Rechtsmaterie teils aus den dem Gesetzgeber vorgelegenen Rechts- 
innewohnenden Gedankens. Sie ist bei allen Ge= gründen (ratio iuris), teils stellt sie die äußere 
setzen unentbehrlich. Je klarer ein Gesetz ist, desto Veranlassung des Gesetzes fest (occasio legis); 
ergiebiger ist es sogar für diese Interpretation. » sie studiert gegebenenfalls die Beziehungen eines 
Zur Ausübung der Interpretation berufen sind Gesetzes zu sonstigen Außerungen seines Autors 
einerseits die Organe der Gesetzeshandhabung, die über ähnliche Materien oder vergleicht dessen Zu- 
Richter und Rechtsgelehrten (gelehrte, doktrinelle 1 sammenhang mit andern größeren Gesetzgebungen 
Interpretation), anderseits aber auch die Organe (sostematisches Element der Auslegung), endlich 
der Rechtsbildung (gesetzliche Auslegung, Legal= kann sie auch eine gesetzliche Einrichtung nach ihrem 
interpretation). geschichtlichen Werdegang beurteilen (historisches 
Die Legalinterpretation beruht nicht auf wissen= Interpretationselement). 
schaftlicher Tätigkeit, sondern auf einer Recht er- Grammatischeundlogische Interpretation müssen 
zeugenden Gewalt, nämlich entweder auf einem, im selben Ziel zusammentreffen; wenn Wort und 
zwar formell als Auffassungserklärung erschei= Wille nicht adäquat sind, dann ist nicht der Buch- 
nenden, aber nicht immer an logische Schluß= stabe, sondern der Sinn eines Gesetzes maßgebend. 
folgerungen gebundenen zwingenden Gesetz (lau= Demgemä sind die Worte des Gesetzgebers, wenn 
thentische Deklaration) oder auf dem bei weniger sie mehr umfassen, als er sagen wollte, einzu- 
rühriger Gesetzgebung sich von selbst entwickelnden schränken (Restriktivinterpretation, vgl. z. B. 1. 3, 
Gewohnheitsrecht (Usualinterpretation). Beispiels= § 1 Dig. de tutelis 26, 1), im umgekehrten Fall 
weise wurde die römische Novelle 118 authentisch aber entsprechend auszudehnen (Extensivinterpre- 
interpretiert durch ein deutsches Reichsgesetz von tation, vgl. z. B. I. 195 Dig. de verb. sig. 
1529, zwar falsch, aber bindend, ähnlich die 50, 16). Terminologisch verwandt hiermit ist die 
Novelle 125 usuell interpretiert, auch falsch, aber Unterscheidung zwischen enger und weiter Aus- 
bindend. legung (interpretatio stricta vel lata). 
Die authentische Deklaration ist doch etwas mehr In der neueren Gerichtspraxis wird bei Zwei- 
als eine bloße Interpretation, da sie neue, ver= felsfällen der Kriminalist, welcher einseitig Nach- 
bindliche Rechtssätze zu schaffen vermag. Eius teile verhängt bzw. Strafen mildert, nicht in der 
est legem interpretari, cuius est condere gleichen Weise wie der Zivilrichter, welcher mit 
(I. 12 Cod. 1, 14); Unde ius produlit, inter- der Begünstigung der einen Partei zumeist die 
pretatio quoque procedat (c. 31 X 5, 39). gegnerische Partei belastet, zu entscheiden haben; 
Auch ist die „stärkste rückwirkende Kraft"“ für sie ersterer kann strafrechtlich die Regel: in dubic 
charakteristisch (vgl. das Gesetz vom 31. Mai 1880 mitius, und strafprozessual den Grundsatz: in 
betreffend sozialdemokratische Reichstagsabgeord- dubio pro reo, gelten lassen, darf aber eine Be- 
nete). Die usuelle Interpretation entsteht durch strafung (im Gegensatz zum römischen und mittel- 
  
  
 
	        
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