Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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pflege zu speziellen Einrichtungen der menschlichen 
Gesellschaft ist folgenden besondere Beachtung zu 
schenken. 
In den Städten verdichten sich die Gefahren 
für die öffentliche Gesundheit und wachsen im Ver- 
hältnis zu ihrer Größenentwicklung. In früheren 
Jahrhunderten hat man beim Ausbau der Städte 
die Rücksicht auf die öffentliche Gesundheitspflege 
fast ganz außer acht gelassen, abgesehen davon, 
daß oft in der ursprünglichen Anlage viel gefehlt 
wurde. Es ist leichter, eine neue Stadt gesund 
anzulegen und auszubauen, als gesundheitlich ver- 
fahrene Zustände in alten Städten nachträglich 
wieder ins Gleis zu bringen. Unter allen Um- 
ständen ist dies mit großen Unkosten verknüpft, 
die von den Bürgern, welche den Wert hygieni- 
scher Anlagen nicht einsehen und auch unmittelbar 
selten wahrnehmen können. nur ungern getragen 
werden. Glücklicherweise hat in den letzten 30 Jah- 
ren das allgemeine Verständnis für Fragen der 
öffentlichen Gesundheitspflege sehr zugenommen, 
so daß die meisten größeren Städte in regem Wett- 
eifer begonnen haben, die Schäden früherer Zeiten 
auszumerzen. 
Bei dem raschen Anwachsen der Städte macht 
sich überall Wohnungsnot und Überfüllung gerade 
derjenigen Quartiere geltend, welche, besonders zu 
Zeiten der Epidemien, hygienisch die gefährlichsten 
sind. Die Wohnungsnot bewirkt eine sanitär ver- 
derbliche allzu große Ausnutzung des Grund und 
Bodens, der sich nur durch rechtzeitige Aufstel- 
lung eines Bebauungs= bzw. Stadterweiterungs- 
planes sowie durch Aufstellung einer Bauord- 
nung wirksam begegnen läßt. Die alten Bau- 
ordnungen nahmen fast ausschließlich auf den 
Verkehr, die Bau= und Feuersicherheit der Ge- 
bäude und allenfalls auf Verhinderung belästigen- 
der Gerüche und ansteckender Stoffe des Gewerbe- 
betriebes Rücksicht. Heutzutage muß den hygie- 
nischen Interessen durch baupolizeiliche Vorschriften 
mehr als früher gedient werden. Bei Stadterwei- 
terungsanlagen muß zuerst ein Bauplan aufge- 
stellt werden, der den Untergrund, die Niveauver- 
hältnisse usw. zu berücksichtigen hat und seinerseits 
eine genaue Aufnahme des Terrains voraussetzt. 
Dann folgt die Herrichtung des letzteren, eventuell 
Austrocknen des Untergrundes durch Ableiten des 
Grundwassers, Aufschüttungen, Regulierung der 
Wasserläufe usw., die Bestimmung der Straßen- 
züge nach Richtung, Breite; womöglich zunächst 
Ausführung der Kanalisation und Anlegung der 
Gas-- und Wasserrohrleitung, kurz, aller unter- 
irdischen Kabelanlagen (Telegraphen-, Telephon-, 
Licht-Leitungen), dann die Ausführung des Stra- 
ßenkörpers, wobei die Wahl des Straßenbau- 
materials eine wichtige Rolle spielt, die Absteckung 
von Plätzen und öffentlichen Anlagen, Vorsorge 
für reichliche Baumpflanzungen, endlich die Be- 
stimmungen über die Bebauung der Bauplätze. 
Alle Neubauten dürfen nur in der vorgeschriebenen 
Baufluchtlinie errichtet werden; es müssen 20 bis 
Staatslexikon. II. 3. Aufl. 
Gesundheitspflege usw. 
  
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25% des Grundstückes unbebaut bleiben; es darf 
eine gewisse, im Verhältnis zur Straßenbreite 
stehende Höhe nicht überschritten und muß eine 
zweckmäßige Anlage der Aborte und der Ent- 
wässerungsanlagen eingehalten werden. 
Von der größten Wichtigkeit ist die Entfernung 
der Abfallstoffe, der flüssigen wie der festen. 
Letztere (Küchen-, Marktverkehr= und Schlacht- 
häuserabfälle, Abfälle gewerblicher Art, Straßen- 
kot) können nur per Achse entfernt werden, wobei 
maßgebend sein soll, daß die Abfuhrstoffe sobald 
als möglich und Tag für Tag aus den Häusern 
beseitigt werden. In jüngster Zeit hat man in 
England angefangen, die Abfallstoffe zu ver- 
brennen, und benutzt dazu vom Ingenieur Fryer 
konstruierte Ofen (destructors). Die verbrei- 
tetste und schlechteste Art der Beseitigung aller 
Schmutz-, Spül-, Wasch= und Regenwässer be- 
steht darin, sie in Senken, Gruben usw. unter den 
Häusern oder dicht neben denselben aufzuspeichern. 
Dies gilt auch von den Fäkalien. Abtrittgruben 
sind verwerflich, weil die in die Wohnungen ein- 
dringenden Grubengase zu akuten und chronischen 
Vergiftungen Anlaß geben, weil sie ferner die 
Bodenluft und das Grundwasser unterhalb der 
Häuser, Höfe und Straßen verunreinigen, ein 
Übelstand, der den Flachbrunnen, die das Grund- 
wasser schon in geringer Tiefe (höchstens 8 m tief) 
erreichen, verderblich wird. Solche Brunnen ent- 
halten in den Städten meist ungenießbares, ge- 
sundheitsschädliches Wasser, da die unbestritten 
vorhandene selbstreinigende Kraft des Bodens ihre 
naturgemäßen Grenzen in dessen Übersättigung 
mit Fäulnisstoffen findet. Es ist nachgewiesen, 
daß selbst zementierte Gruben bis zu einem ge- 
wissen Grade durchlässig sind und den Boden ver- 
seuchen. Sind solche unvermeidlich, so müssen sie 
außerhalb der Grundmauern der Häuser gelegen 
sein und dürfen nicht dicht an dieselben anschließen, 
sollten überdies von einer mehrere Zoll dicken 
Lehmschicht umgeben, klein (damit ihr Inhalt oft 
entleert wird), luftdicht gedeckt und durch Ver- 
längerung des Fallrohres über das Dach hinaus 
ventiliert sein. Am zweckmäßigsten werden die 
Aborte in den Höfen bzw. vom Wohnhause räum- 
lich getrennt angelegt. Die Reinigung dieser 
Gruben durch Pumpvorrichtungen (pneumatische 
Reinigung) muß selbstredend vor ihrer Füllung 
bis zum Rand erfolgen; ein großer Nachteil sol- 
cher Gruben ist, daß ihre unterirdische Lage die 
Kontrolle ihres Füllungszustandes erschwert und 
sie gewöhnlich erst dann gereinigt werden, wenn 
sie überlaufen. 
Vom Standpunkte der Hygiene und der Land- 
wirtschaft ist die Einführung der Fäkalien in be- 
wegliche Behälter und das öftere Auswechseln der 
letzteren bzw. ihre Abnahme durch Landwirte 
(Tonnensystem) empfehlenswerter. Tatsächlich 
können aber nur kleinere oder mittlere Städte mit 
diesem System auskommen, da in größeren Städten 
auf eine regelmäßige Abnahme durch die Land- 
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