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Verständnis und Liebe zur Sache muß aber
auch bei den pflichtmäßigen Vertretern der Gesell-
schaft in Angelegenheiten der öffentlichen Gesund-
heitspflege vorhanden sein. Das sind zunächst alle
Arbeitgeber. Wie im Strafgesetzbuche der
Begriff „Offentlichkeit“ durch eine Anzahl fremder
Zeugen gebildet wird, so ist auch die „Offentlich=
keit“ in der Gesundheitspflege durch das gemein-
same Arbeiten mehrerer nicht zu einer Familie ge-
hörigen Personen in einem und demselben Hause,
Fabrikraum, Atelier usw. bedingt. Soweit also
der Arbeiter innerhalb des ihm zugewiesenen Ar-
beitslokals seine Gesundheit nicht selbst schützen
kann, ist der Vorgesetzte, der Arbeitgeber zur Ge-
währung dieses Schutzes gehalten, weil er in diesem
Falle die Pflichten und Rechte der Gesellschaft be-
züglich der öffentlichen Gesundheitspflege wahr-
zunehmen hat.
Ferner sind berufene Organe für öffentliche
Gesundheitspflege die Gemeinden, deren Auf-
gaben in großen Städten wir oben schon dar-
gelegt haben. Aber auch kleinere städtische und
die ländlichen Gemeinden haben vielfache Veran-
lassung zur Entfernung sanitärer Mißstände durch
Reinhaltung der Straßen und öffentlichen Wege,
Verbesserung der Wasserzufuhr und Beseitigung
der Schmutzwasser usw. Namentlich sind auf dem
Lande die Wohnungsverhältnisse durchschnittlich
sehr verbesserungsfähig. Soweit die einzelne Ge-
meinde für sich nicht imstande ist, allen Forde-
rungen der öffentlichen Gesundheitspflege gerecht
zu werden, wird dies größeren Gemeindeverbänden
(Kreisen, Distrikten, Provinzen usw.) leichter mög-
lich sein. Namentlich die Sorge für Sieche und
Kranke besonderer Art (Geisteskranke, Idioten,
Blinde, Taubstumme), für den Unterricht und die
Heranbildung von Hebammen u. a. verlangt die
Unterstützung oder Ausführung seitens größerer
Distrikte. In Preußen sind größtenteils die Land-
armenverbände mit der Erfüllung dieser Obliegen=
heiten betraut.
Der vornehmste Verband, welchen die Gesell-
schaft zu ihrer Erhaltung und zur Obhut ihrer
materiellen Interessen gebildet hat, der Staat,
ist dadurch eben auch der berufene Träger der
öffentlichen Gesundheitspflege im weitesten Sinne
geworden. Wie die Gesetzgebung der ältesten Kul-
turvölker zeigt, ist er sich dieser Aufgabe immer
bewußt gewesen; doch erst die empirische und
mehr noch die wissenschaftliche Entwicklung der
modernen Hygiene aus dem Schoße der Gesell-
schaft heraus hat sie einerseits erweitert und ander-
seits schärfer begrenzt, so daß ihre grundlegende
Bedeutung für das Wohl des Staates jetzt allge-
mein anerkannt ist.
Dem Lebensinteresse des Staates an der öffent-
lichen Gesundheitspflege laufen die Machtmittel
parallel, die ihm zu ihrer Organisation, Aus-
breitung und Durchführung zu Gebote stehen.
Auch aus diesem Grunde muß der Staat als
oberster Wächter der öffentlichen Gesund-
Gesundheitspflege usw.
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heitspflege sowohl hinsichtlich der Initiative als
der Exekution angesehen werden. Damit soll nicht
gesagt sein, daß der Staat, sei es durch Ver-
fügungen, Verordnungen, Verwaltungsmaßregeln
der verschiedenen Abstufungen und Zweige seiner
Regierung, sei es durch die legislativen Faktoren,
alles selbst regeln und durch seine Beamten durch-
führen soll. Wenn, wie wir bereits auseinander-
gesetzt haben, die öffentliche Gesundheitspflege ohne
das lebendige Interesse des einzelnen nicht exi-
stieren würde, so könnte erst recht der staatliche
Apparat ohne die lebendige Mitwirkung der ihm
eingefügten, bis zu einemn gewissen Grade selb-
ständigen Glieder, nämlich der Gemeinden, nichts
Wesentliches erreichen. Alle Mühe des ganzen
gesetzgeberischen und exekutiven Apparates wäre
verloren, wenn nicht die Gemeinden und an erster
Stelle die großen Städte jede für sich ihre eigenen
hygienischen Zustände verbesserten und fort und
fort die öffentliche Gesundheit pflegten. Es
geschieht dies durch Berücksichtigung aller der
Punkte, welche wir oben namhaft gemacht haben.
Erst wenn die Gemeindewesen eines Staates hy-
gienisch wohlgeordnet fsind, gewinnen die staat-
lichen Maßnahmen zur öffentlichen Gesundheits-
pflege Bedeutung und Erfolge, während sie ohne
dies einen Rahmen ohne Bild vorstellen.
Es muß dem Staate das Recht zuerkannt wer-
den, Gemeinden, in welchen offenbare hygienische
Mißstände nicht gehoben werden, nach fruchtlosem
Ermahnen und Drohen dazu zu zwingen. In
diesem Falle wird er sich aber bei materiellem
Unvermögen der Gemeinde auch den Folgen, die
Kosten ganz oder teilweise zu tragen, nicht ent-
ziehen können. Schon aus diesem Grunde, weil
sanitäre Verbesserungen, z. B. Kanalanlagen,
Wasserleitungen, mit erheblichem Geldaufwande
verbunden zu sein pflegen, wird der Staat nicht
oft in die Lage kommen, auf dem Wege des
Zwanges gegen widerspenstige Gemeinden vor-
zugehen. Am besten ist es für ihn, wenn aus der
Gemeinde heraus das Bedürfnis nach hygienischen
Verbesserungen sich geltend macht. Nach dieser
Richtung hin aufklärend, ermunternd, belehrend
und helfend durch seine Organe ein= und mitzu-
wirken, ist gegebenenfalls die ihm zuzuweisende
wichtige Aufgabe. Der Staat kann in dieser Hin-
sicht am meisten durch den Unterricht, besonders
in den Lehrerseminarien und den höheren Schulen,
erreichen. Wenn er hygienisch unterrichtete Lehrer
und tüchtig geschulte Arzte, Baumeister, Inge-
nieure und Verwaltungsbeamte besitzt, wenn die
führenden Gesellschaftsklassen als ein wesentliches
Element ihrer Bildung die Grundlehren der Ge-
sundheitswissenschaften in sich aufgenommen haben,
so wird nicht leicht mehr ein Ort von irgend welcher
Bedeutung gesundheitsfeindliche Zuständein seinem
Schoße länger dulden.
Ferner hat der Staat die Gelegenheit wahr-
zunehmen, in den ihm unmittelbar unterstellten
und von ihm eingerichteten Anstalten die voll-