Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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in verschiedenen Abstufungen ihrer Kompetenz nicht 
nur das Recht der Beaufsichtigung und Initia- 
tive, sondern auch der Exekutive erhalten. Für 
Nationen, welche eine herkömmliche, sozusagen an- 
gestammte Vorliebe für bureaukratische Einrich- 
tungen des Staatswesens haben, birgt eine allzu 
große Ausdehnung der Gesundheitsgesetzgebung 
und mehr noch die auf Grund derselben erweiterte 
Vollmacht der Zentralbehörde und der Regierungs- 
organe überhaupt eine Gefahr für die Freiheit und 
Selbständigkeit der Bürger in sich. Gibt es doch 
kein Gebiet des Lebens und Schaffens, das außer- 
halb jeder sanitären Beziehung stände, in das 
also Gesetz und Exekutivgewalt gegebenenfalls nicht 
eingreisen könnten. Dieser Gefahr ist nur durch 
Ausbildung der Selbstverwaltung und Übertra- 
gung wichtiger Befugnisse des öffentlichen Sani- 
tätswesens auf die Organe derselben zu begegnen, 
wobei nicht ausgeschlossen ist, daß die Zentral- 
behörde die einheitliche Leitung und Kontrolle bis 
zu einem gewissen Grade behält. Dies würde 
am meisten den in England ausgebildeten Zu- 
ständen entsprechen, welche hier freilich die auto- 
nome Freiheit der Kirchspiele und Distrikte wesent- 
lich eingeschränkt haben. Was indessen der frei- 
heitsliebende Brite an Einschränkung und Zwang 
sich gefallen läßt, das können getrost auch andere 
Nationen ertragen. Wenn die englischen Stati- 
stiker, wie wir gesehen haben, eine stetige Abnahme 
der Sterblichkeit überhaupt und einzelner Krank- 
heiten, wie Typhus und Tuberkulose, insbesondere 
nachzuweisen in der Lage sind, so darf man mit 
Recht diese Erfolge der ausgezeichneten Sanitäts- 
gesetzgebung Englands zuschreiben, die trotz ihrer 
Schattenseiten, welche in der Ungleichartigkeit der 
Durchführung liegen (da die Distrikte, welche auf 
gewisse Staatsunterstützungen Verzicht leisten, sich 
manche Freiheiten bei der Ausführung der Ge- 
sundheitsakte gestatten können), eine der vollkom- 
mensten Gesundheitsgesetzgebungen ist. Von an- 
dern Staaten sind die Schweiz, Deutschland und 
Osterreich am weitesten vorangeschritten. Auch die 
nordamerikanische Union, dann Schweden, Italien 
und Frankreich haben bereits gute Anfänge auf 
diesem Gebiete gemacht. 
Die sanitäre Gesetzgebung Englands datiert 
im wesentlichen vom ersten Ausbruche der Cholera 
(1831) her. Wir müssen darauf verzichten, die 
Organisation der englischen Gesundheitsgesetz- 
gebung darzulegen, und weisen hier nur darauf sch 
hin, daß England in dieser Hinsicht für andere 
Länder vorbildlich geworden ist und namentlich 
auch für Deutschland den Anstoß zum Beginn 
einer sanitären Gesetzgebung gegeben hat. 
In Deutschland haben die Einzelstaaten 
schon seit dem 17. Jahrh. eine beschränkte Form 
von öffentlichem Sanitätswesen besessen. Die 
Entwicklung desselben ist seit dem Anfang des 
18. Jahrh. langsam und in den verschiedenen 
Staaten sehr ungleichartig erfolgt. Eine organi- 
satorische, alles Einschlägige umfassende Gesund- 
Gesundheitspflege usw. 
  
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heitsgesetzgebung ist bisher in keinem der Bundes- 
staaten zustande gekommen; doch ist die Sanitäts- 
organisation in Sachsen und den süddeutschen 
Staaten erheblich weiter vorangeschritten als in 
Preußen. Vielfach hat man vom Reich ein die 
sanitäre Gesetzgebung der Einzelstaaten ausglei- 
chendes, ergänzendes und zusammenfassendes Ge- 
sundheitsgesetz erwartet, welches für die öffentliche 
Gesundheitspflege von derselben Bedeutung sein 
würde, wie das Bürgerliche Gesetzbuch für die 
deuische Rechtspflege. Der Art. 4 der Reichsver- 
fassung bezeichnet „Maßregeln der Medizinal= und 
Veterinärpolizei“ als eine der Beaussichtigung sei- 
tens des Reiches und seiner Gesetzgebung unter- 
liegende Angelegenheit. Zuständige Behörde ist 
das Reichsamt des Innern, in welchem jedoch ein 
ärztlicher Referent bisher nicht vertreten war. Das 
„Kaiserliche Reichsgesundheitsamt“, 
welches unter einem nicht ärztlichen Direktor 1 or- 
dentliches und 32 außerordentliche Mitglieder 
zählt, ist eine lediglich beratende Behörde, 
welcher die Aufgabe zugewiesen ist, den Reichs- 
kanzler in der Ausübung des ihm verfassungs- 
mäßig zustehenden Aufsichtsrechtes und in der 
Vorbereitung einer Gesundheitsgesetzgebung zu 
unterstützen, die sanitären Einrichtungen anderer 
Staaten und Länder zu verfolgen, ihre Wirkungen 
zu beobachten, Staats= und Gemeindebehörden 
Auskunft zu erteilen und eine brauchbare medi- 
zinische Statistik herzustellen. 
Für die Verwaltung des preußischen Me- 
dizinalwesens ist das „Ministerium der geistlichen, 
Unterrichts= und Medizinalangelegenheiten“ als 
Zentralbehörde durch Allerhöchste Order vom 
22. Juni 1849 eingesetzt, welches die oberste Lei- 
tung des ganzen Medizinal= und Sanitätswesens 
mit Ausnahme der Veterinärangelegenheiten, dann 
die Aussicht über die Qualifikation des Medizinal- 
personals und seine Verwendung im Staatsdienste, 
endlich die Oberaufsicht über die öffentlichen und 
Privatkrankenanstalten besitzt. Dem Kultusminister 
sind unmittelbar unterstellt die wissenschaftliche De- 
putation für das Medizinalwesen und die technische 
Kommission für pharmazeutische Angelegenheiten. 
Beides sind beratende und begutachtende Sani- 
tätsbehörden. Erstere, aus einem Direktor, 
ordentlichen und außerordentlichen Mitgliederm 
bestehend, hat sich über alle ihr vom Minister zur 
Begutachtung vorgelegten Verhandlungen, Vor- 
läge und Fragen vom Standpunkte der medi- 
zinischen Wissenschaft zu äußern und insbesondere 
die vom Minister ihr auf Ersuchen der Gerichts- 
behörden aufgetragenen gerichtlich = medizinischen 
Obergutachten zu erstatten; dann aber auch aus 
eigenem Antriebe dem Minister Vorschläge zur Ab- 
stellung von Mängeln, welche sie bei Einrichtungen 
für Zwecke der öffentlichen Gesundheitspflege er- 
kennt, zu machen und neue Maßnahmen in An- 
regung zu bringen; endlich die Prüfung der ürzte 
abzuhalten, welche die Befähigung zur Anstellung 
als Medizinalbeamte erlangen wollen. Die Spitzen 
 
	        
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