Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Krankheiten, von denen mehrere, wie Cholera, 
Typhus, Ruhr, Pocken u. a., besonders namhaft 
gemacht werden. Auch bestimmt es über eventuelle 
Schließung der Schulen und die Behandlung an- 
steckender Kranken außerhalb des Hauses. 
Das Gesetz vom 12. April 1875, betreffend 
die Ausführung des Reichs-Impfgesetzes, be- 
stimmt die Bildung von Impfbezirken, die An- 
stellung von Impfärzten und die Übernahme der 
Kosten seitens der Kreise mit Ausnahme der Kosten 
für Herstellung und Unterhaltung der Impf- 
institute. Letztere, welche dem Oberpräsidenten 
unterstellt sind, werden durch einen besondern 
Ministerialerlaß an die königlichen Oberpräsidien 
vom 28. Dez. 1876 mit den nötigen Instruktionen 
versehen. Von zahlreichen Erlassen, zu denen das 
Impfgesetz Veranlassung gegeben, erwähnen wir 
als den wichtigsten nur den Zirkularerlaß an die 
königlichen Regierungen vom 6. April 1886, be- 
treffend Vorschriften zur Sicherung der gehörigen 
Ausführung des Impfgeschäfts. 
Das Reichsgesetz betreffend den Verkehr mit 
Nahrungsmitteln hat Preußen Anlaß ge- 
boten zu Zirkularverfügungen vom 2. Aug. 1879 
betreffend öffentliche Untersuchungsanstalten und 
vom 14. Juli 1882 betreffend die Bestellung von 
Sachverständigen zur Untersuchung der für den 
Verkehr bestimmten Nahrungsmittel. Für die 
Fleischkontrolle war durch das Gesetz vom 18. März 
1868 betreffend die Errichtung öffentlicher, aus- 
schließlich zu benutzender Schlachthäuser bereits 
bis zu einem gewissen Grade vorgesorgt. Dieses 
Gesetz ist durch das vom 9. März 1881 unter 
anderem dahin abgeändert und verschärft worden, 
daß den Gemeinden das Recht verliehen wurde, 
die Untersuchung des Schlachtviehes, des geschlach- 
teten und eingeführten Fleisches usw. anzuordnen. 
Andere ministerielle Verfügungen betreffen die Ein- 
führung der obligatorischen Fleischschau (4. Jan. 
1875), die Stellung der Fleischbeschauer, die 
Maßregeln gegen als finnig befundene Schweine 
(16. Febr. 1876), die Genießbarkeit des Fleisches 
perlsüchtiger Tiere (15. Sept. 1887) und die Ver- 
wertung ihres Fleisches (11. Febr. 1890 und 
23. April 1891). Ohne die zahlreichen behördlich- 
preußischen Erlasse, die auf dem Reichsnahrungs- 
mittel-, Wein= und Seuchengesetz beruhen, sowie 
diejenigen, welche auf Wohnungs= und Fabrik- 
hygiene, Kinder= und Arbeiterschutz usw. Bezug 
haben, hier anführen zu können, sei nur noch be- 
merkt, daß betreffs Leichenschau landesgesetz- 
liche Bestimmungen in Preußen fehlen. 
Die Beibringung eines ärztlichen Totenscheins 
nach vorgeschriebenem Formular, der auch zur 
Statistik der Todesursachen dient, ist in Berlin, 
Breslau, Köln und vielen andern Städten durch 
Lokalpolizeiverordnung vorgeschrieben. Über die 
Beförderung von Leichen auf Eisenbahnen und 
das Schema der Leichenpässe sind ministerielle 
Rundschreiben an die Regierungspräsidenten er- 
gangen (6. April und 23. Sept. 1888). Endlich 
Gesundheitspflege usw. 
  
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liegt ein Beschluß der wissenschaftlichen Deputation 
vor (31. Dez. 1890) über Anlage und Benutzung 
von Begräbnisplätzen (s. auch d. Art. Begräbnis- 
wesen Bd 1I, Sp. 686). 
Ahnlich wie Preußen sind die andern Einzel- 
staaten bezüglich des Sanitätswesens organisiert 
und administriert. Der bureaukratische, medizinal- 
polizeiliche Charakter tritt überall zutage; es 
handelt sich um eine bunte Musterkarte von Er- 
lassen und Verordnungen, welche bald diesen bald 
jenen Punkt der öffentlichen Gesundheitspflege 
oder sanitären Administration zum Gegenstande 
haben, fast ausschließlich aber in der Bekämpfung 
einzelner ansteckender oder gemeingefährlicher 
Krankheiten gipfeln. Hervorgehoben werde, daß 
in Bayern „oberpolizeiliche Vorschriften des Mini- 
steriums über die Leichenschau und Beerdigung“ 
(20. Nov. 1885), im Königreich Sachsen ein Ge- 
setz und Ausführungsverordnungen betreffend die 
Leichenbestattungen und die Einrichtungen des 
Leichendienstes (20. Juli 1850), in Württemberg 
eine königliche Verordnung betreffend Leichenschau, 
Leichenöffnung und Begräbnis (24. Jan. 1882), 
in Baden eine Verordnung betreffend die sanitäts- 
polizeilichen Maßregeln in Bezug auf Leichen- 
wesen und Begräbnisstätten (16. Dez. 1875) nebst 
Dienstanweisung für die Leichenschauer (22. Dez. 
1887) ergangen sind. 
Das Reich hat zwar die sanitäre Gesetzgebung 
in Angriff genommen, jedoch nicht als Ganzes und 
planmäßig fortschreitend, sondern unter Heraus- 
greifen einzelner heterogener, der Reglung beson- 
ders bedürftiger Angelegenheiten. Es scheint, daß 
erst der plötzliche Ausbruch einer Seuche, wie die 
Cholera in Hamburg (1892), oder das Heran- 
nahen einer solchen, wie die Pest (1900), den An- 
stoß zu entsprechenden gesetzgeberischen Vorlagen 
gibt. So wurde 1893 ein Gesetzentwurf betreffend 
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten 
vom Bundesrate beim Reichstag eingebracht und 
eingehend begründet. Doch kam es zu keiner ge- 
setzgeberischen Tat. Erst am 30. Juni 1900 ge- 
langte das sog. Reichsseuchengesetz (Gesetz betreffend 
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten) 
in Kraft. Dasselbe hat aus der großen Zahl ge- 
meingefährlicher Krankheiten (zu denen beispiels- 
weise an erster Stelle die Syphilis gehören müßte) 
einzelne ausgewählt und verpflichtet den Arzt bzw. 
den Haushaltungsvorstand, den Krankenpfleger 
und den Hausbesitzer bzw. den Leichenschauer zur 
Anzeige, selbst wenn nur Verdacht einer der ge- 
nannten Krankheiten besteht. Ferner enthält das 
Gesetz Bestimmungen über die Entwicklung der 
Krankheit, über die anzuwendenden Schutzmaß- 
regeln, die Entschädigungen und enthält außer 
allgemeinen die Strafvorschriften bei Ubertretung. 
Das ganze Gesetz entspricht inhaltlich keineswegs 
den Erwartungen, die von ärztlicher Seite im 
Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege an die 
ursprüngliche Vorlage vom Jahre 1893 geknüpft 
worden sind. Es kann nicht ausbleiben, daß im
	        
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