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Prophylaxis der Syphilis. Hier stehen
der Sanitätspolizei nur zwei Wege zu Gebote:
Duldung der erwerbsmäßigen Prostitution unter
Freigabe der Wohnung oder die Einschränkung
derselben auf gewisse Häuser (Bordelle) unter
schonungsloser Verfolgung der fahrenden Prosti-
tution. Vom Standpunkte der sanitären Über-
wachung ist die letztere Einrichtung vollkommener
als die erste, weil sie eine schärfere, regelmäßigere
und zuverlässigere Untersuchung der Dirnen und
unter Umständen selbst der Besucher gestattet. Er-
fahrungsgemäß steht von den freien Prostituierten
nur ein geringer Teil unter fortlaufender sanitäts-
polizeilicher Kontrolle, und auch die eingeschrie-
benen finden sich unregelmäßig und oft längere
Zeit überhaupt nicht zur Untersuchung ein. In-
folgedessen werden die Erkrankten weit unregel-
mäßiger und später behandelt als die in Bordellen
Wohnenden und verbreiten die venerischen Krank-
heiten um so mehr, als sie das Gift überallhin
verschleppen können. Erfahrungsgemäß nimmt
denn auch überall, wo die Bordelle aufgehoben
sind oder nicht unter ausreichender sanitärer Auf-
sicht stehen, weil neben ihnen die vagierende Pro-
stitution geduldet wird, die Verbreitung der Sy-
philis in erschreckendem Maße zu. Im Deutschen
Reiche sind infolge des § 180 des Strafgesetz-
buches, welches gewerbsmäßige Kuppelei bestraft,
alle Bordelle aufgehoben. In Bremen hat man
nicht ohne Erfolg einen Ausweg gefunden, indem
man die Prostitution in eine einzige Sackgasse zu-
sammengedrängt und dadurch den Kupplern und
Zuhältern entzogen hat (Konzentrierungssystem).
Andere Mittel gegen die Prostitution selbst
(welche immer, auch bei schärfster sanitärer Be-
aussichtigung, der Verbreitung der Syphilis den
größten Vorschub leisten wird), wie Verbesserung
der Wohnungsverhältnisse, Verfolgung der Schand-
litteratur, der Tingeltangel, Beschränkung der
Wirtschaftskonzessionen, des Kellnerinnenwesens,
Lohnaufbesserung für Arbeiterinnen, Erleichterung
des Heiratens, sind nicht Sache der Sanitäts-
polizei. Wohl aber kann dieselbe auf Behandlung
der an Syphilis Erkrankten in Krankenhäusern
und auf Erleichterung ambulatorischer Behand-
lung solcher Kranken hinwirken; die Bestim-
mung mancher Krankenkassenstatuten, gerade solche
Kranke von der Wohltat des Gesetzes auszuschließen,
verfehlt ihren Zweck gänzlich und leistet der Ver-
breitung der Syphilis nur Vorschub. Alle aber,
die berufen sind, in dieser Frage zu urteilen, mögen
sich die Worte des trefflichen Dr Sonderegger (Vor-
posten der Gesundheitspflege II 387) merken:
„Der Arzt, welcher Gesundheitspflege lehren möchte,
bittet warm und dringlich, die Forderungen der
sittlichen Reinheit nicht zu verachten. Auch das
eiserne Naturgesetz stellt diese Forderungen. Es
ist nicht wahr, daß die Enthaltsamkeit gesund-
heitsschädlich sei; aber wahr ist, daß viele Be-
dürfnisse in dem Maße zunehmen, in welchem sie
befriedigt werden, und ebenso: daß der Mensch
Gesundheitspflege ufw.
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nur die Freiheit hat, anzufangen, aber selten auch
die Freiheit, aufzuhören. Die Wahrscheinlichkeit,
unglücklich zu machen oder unglücklich zu werden,
ist sehr groß, selten unter 50% . . Wer wird
die Gefahr übernehmen, vielleicht für sein ganzes
Leben krank zu werden und die Sprossen seines
Stammbaumes zu verderben?“
Prophylaxis der Tuberkulose. Da der
Infektionsträger fast ausschließlich im Auswurfe
Tuberkulöser nach außen gelangt, so ist auf Ver-
meidung des Austrocknens und Verstäubens der
Sputa und auf gefahrlose Beseitigung derselben
durch Ausspucken in zum Teil mit Wasser gefüllte
Gefäße, die leicht und gründlich gereinigt werden
können (Porzellannäpfe), zu sehen. Es darf des-
halb nicht in Taschentücher oder auf den Boden
gespuckt werden, um das Verstäuben des getrock-
neten Auswurfes zu vermeiden. Die Sanitäts-
behörde müßte, zunächst für alle öffentlichen An-
stalten, strenge Vorschriften in dieser Beziehung
erlassen.
Ohne aufdie sanitätspolizeilichen Vorbeugungs-
maßregeln der Zoonosen (Milzbrand, Rotz, Hunds-
wut usw.), der Malaria, der akuten Exantheme
(Scharlach, Masern usw.), der Ruhr, typhöser Er-
krankungen, Diphtherie usw. näher einzugehen, sei
hier nur noch der großen epidemischen Krankheiten
(Cholera, Gelbfieber, Pest) gedacht, welche zur
wirksamen Bekämpfung einer internationalen Ver-
ständigung bedürfen. Der heutzutage gewaltige
internationale Verkehr macht auch betreffs aller
übrigen ansteckenden oder übertragbaren Krank-
heiten internationale sanitätspolizeiliche Verein-
barungen, zunächst zwischen den Nachbarländern,
wünschenswert. Die internationalen Sanitäts-
konferenzen (Wien 1874, Rom 1885) haben ver-
geblich einen Ausgleich der widerstreitenden Mei-
nungen zu erzielen gesucht. England und Nord-
amerika erklärten sich gegen alle prohibitiven Maß-
regeln und wollten nur örtliche hygienische Ver-
besserungen, Isolierung und Desinfektion zulassen;
die Türkei dagegen, Spanien, Griechenland und
die südamerikanischen Staaten verharrten bei dem
starren Quarantänesystem, und so fand schließ-
lich die vermittelnde Stellung der übrigen Staaten
zur Not die Majorität mit dem Vorschlage, die
Nutzlosigkeit der Landquarantänen und See-
kordons und die Notwendigkeit der Assanierung
der Häfen und Hafenstädte, der Inspektion cholera-
verdächtiger Schiffe, der Isolierung und sorgfäl-
tigen Behandlung der Kranken auszusprechen. Auch
die internationale Sanitätskonferenz zu Washing-
ton (1890), an der sich 27 Seehäfen besitzende
Nationen beteiligten, konnte keine Vereinbarung
über gleichförmige und wirksame internationale
Quarantänevorschriften zustande bringen. Wäh-
rend die Entdeckung des Kommabazillus den An-
hängern der Quarantäne eine neue Stütze zu geben
schien, da derselbe durch die Stuhlentleerungen der
Kranken, demnach durch den menschlichen Verkehr,
verbreitet wird, leugneten die auf ungehinderten